Katharsia (German Edition)
nicht wahr?“
„Natürlich bleibt er im Bett“, brummte Nabil. „Von Aufstehen habe ich kein Wort gesagt.“
„Wie sollte man deine Bemerkung, dass er nicht gerade krank aussieht, denn sonst verstehen?“, entgegnete Denise.
Nabil winkte nur ab. Er hatte keine Lust auf Streit.
Auch Denise schwieg. Nur das gelegentliche Aufzucken ihrer Flügel verriet die Anspannung, in der sie sich befand.
„Wie geht es deinem Vater?“, fragte Sando, der die Ursache für ihren Zustand ahnte.
Der kleine Engel schluckte, unfähig zu sprechen.
Gregor antwortete an ihrer Stelle: „Es geht ihm nicht gut. Aber keine Angst“, ergänzte er, als er Sandos erschrockenen Blick bemerkte, „er ist außer Lebensgefahr.“
„Dieses Brainscreening …“, kam es nun von Denise. „Es hat ihm so zugesetzt.“
Sie schniefte in ein Taschentuch. Ihre Flügel vibrierten. Eine weiße Flaumfeder löste sich, wurde von einem leichten Hauch erfasst und schwebte davon. Der kleine Engel starrte ins Leere, sagte schließlich tonlos: „Und ich … ich konnte ihm nicht helfen … so, wie damals …“
Sie sah sich als Schutzengel – ein Schutzengel, der schmählich versagt hatte.
Ben, der neben Denise saß, strich sich gedankenverloren mit dem Mittelfinger über die rechte Augenbraue. Sando musste schmunzeln, weil schon dem jungen Ben diese Marotte eigen war. Doch sein Lächeln erstarb, als er sich bei der gleichen Geste ertappte. Möglichst unauffällig nahm er die Hand vom Gesicht, nicht, ohne sich zu vergewissern, ob jemand den Gleichklang zwischen Ben und ihm bemerkt hatte. Doch die Gedanken der Gefährten waren offenbar bei Denise. Ben hatte inzwischen die Hand des kleinen Engels ergriffen und streichelte sie nun beruhigend.
„Was ich nicht verstehe …“, brach Sando das Schweigen. „Dieser Professor Sindelfang scheint in Katharsia zu leben. Wieso ist er nicht im Hades, wenn er solche Menschenversuche betrieben hat?“ Er wandte sich an Ben: „Du als Mitglied der Einwanderungskommission musst das doch wissen …“
Ben räusperte sich. „Nun ja, es ist schon möglich, dass die Kommission solche Dinge nicht bemerkt. Sindelfang versteht sich als Heilsbringer. Ihn plagt kein schlechtes Gewissen. Was sehen wir denn in seinen Lebenserinnerungen, wenn seine Seele nach Katharsia kommt? Nur die Äußerlichkeiten – den Arzt, der aufopferungsvoll einen Todkranken behandelt. Wer käme schon auf den Gedanken, dass er selbst es war, der den Zustand des Patienten verursacht hat?“
Denise schniefte wieder in ihr Taschentuch. Ihre Stimme zitterte vor Empörung, als sie sagte: „Dieses Schwein lebt also … irgendwo … unter uns?“
„Es ist zumindest möglich“, bestätigte Ben.
„Wenn mein Vater das erfährt, dann …“
„Du musst es ihm ja nicht gleich auf die Nase binden, Denise. Lass ihn erst einmal wieder auf die Beine kommen“, unterbrach Ben sie und ergänzte mit einem Seitenblick auf ihre zerzausten Flügel: „Dann geht es auch dir wieder besser.“
Denise nickte finster. „Dieses Schwein! Dieses Schwein!“, murmelte sie immer wieder.
Nabil trat hinter ihren Stuhl und nahm ihren Kopf in seine großen Hände. Und sie, die ihn eben noch angegiftet hatte, lehnte sich dankbar zurück.
„Es hat uns alle irgendwie erwischt“, resümierte Ben, auf der Bettkante sitzend. „Aber wir lassen uns nicht unterkriegen, nicht wahr?“
Er begann wieder jungenhaft mit seinen Beinen zu schaukeln.
Gregor stand immer noch am Fußende des Bettes und beobachtete still die Gefährten. Vor allem konnte er sich nicht sattsehen an dem frischgebackenen Ben. Das Wunder, dass sein Gefährte wie aus der Kinderzeit entsprungen zum Greifen nahe bei ihm war, machte ihn sprachlos.
Tatsächlich war Ben wieder ganz der lebendige Junge von einst. „Was hätte ich bloß ohne dich gemacht, Sando?“, sagte er munter. „Du warst der Einzige, mit dem ich arme Seele reden konnte. Es ist schon toll, als Seele auf einen Auvisor zu treffen.“
„Na, ich weiß nicht …“, entgegnete Sando lächelnd. „Vorhin war eine Seele hier, die fand es nicht so toll, dass ich sie sehen konnte.“
„Wie das?“
Nun erzählte Sando von dem Verhör der Gefahrenabwehr und von der Spitzelseele, die er vertrieben hatte.
„Sie wissen also, dass du ein Auvisor bist?“, fragte Ben.
„Sie haben es mir nicht geglaubt.“
„Diese Dummköpfe!“, kicherte Ben.
„Und die Sache mit dem Hühnergott haben sie mir auch nicht abgenommen“, beschwerte sich
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