Katharsia (German Edition)
„Morgen kommen wir wieder.“
„He, Ben!“, rief Sando dem Hinausgehenden hinterher. „Ich muss dir noch etwas sagen!“
Doch Ben hob nur abwehrend die Hände und drehte sich nicht einmal um, als er entgegnete: „Morgen ist auch noch ein Tag, Sando. Angenehme Ruhe wünsche ich.“
Dass ihm Sando noch „Fatima ist in Paris!“ nachrief, ging im Geräusch der zuschlagenden Tür unter.
Achselzuckend verstaute Sando den Hühnergott wieder dort, wo er offenbar am sichersten war: im Geheimfach der Madonna. Dann übermannte ihn der Schlaf.
JANNIS DER TRÄUMER
Es war noch dunkel, als Sando von einem schlurfenden Geräusch geweckt wurde. Jemand schlich durch den Raum! Der Junge fasste unwillkürlich an seine Brust. Das Medaillon war noch da!
Das Schlurfen entfernte sich, nahm die Richtung zum Fenster, hinter dem es hin und wieder hell aufflackerte, als zucke draußen ein Meer von Leuchtreklamen.
Vor dem Hintergrund des unsteten Lichtspiels, das den Schatten des Fensterkreuzes mal scharf und mal weniger scharf an die Wand warf, erschien langsam eine Gestalt. Aus ihr wuchs ein Arm hervor, der sich zum Fensterknauf hin streckte. Ein kurzer Ruck und eine Flut von Geräuschen brandete ins Zimmer. Beunruhigende Geräusche, die nicht in die Nacht gehörten. Rufe, Schreie, Flüche.
„Hol sie der Teufel!“ Der Satz kam von der Schattengestalt, die nun langsam wieder aus dem Lichtkreis verschwand. Kam sie jetzt auf ihn, Sando, zu? Rasch richtete er sich in seinem Bett auf. Trotz der Alarmstimmung, in der er sich befand, registrierte er, dass ihn kein Schwindel wieder ins Kissen warf. Steif saß er da und starrte in die Dunkelheit.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“
Er tastete nach dem Notrufknopf. Doch noch ehe er ihn fand, ging eine Lampe an. Es war die vom Nachbarbett.
Nachbarbett? Sando stutzte. Bisher hatte es nur ein Bett in seinem Zimmer gegeben – und zwar das, in dem er selbst lag. Während er geschlafen hatte, musste jemand ein zweites hereingeschoben haben. Und der Mann, der durch das Zimmer getappt war und sich nun wieder in seine Decke wühlte, war alt wie Methusalem.
„Ich brauche Luft“, sagte er heiser mit einem Blick zum geöffneten Fenster. „Aber wenn dich der Lärm stört, Junge, dann mach es wieder zu.“
Mit einer raschen Geste, die nicht zu seinem Alter zu passen schien, strich er sich eine Strähne seines schütteren, weißen Haars aus dem Gesicht und Sando hatte den Eindruck, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben.
„Schon gut“, sagte Sando und ließ sich rücklings ins Kissen fallen. Langsam beruhigte er sich wieder.
„Was ist dort draußen los?“, fragte er, denn das Geschrei verstärkte sich.
„Reporter“, sagte der Greis verächtlich.
„Was wollen die mitten in der Nacht?“
„Wie es scheint, sind sie hinter dir her, mein Junge.“
„Hinter mir?“
„Wundert es dich? Du gehörst zu denen, die Präsidentenberater Battoni zu Fall gebracht haben. Offenbar ist durchgesickert, dass du in diesem Krankenhaus liegst.“
Sando war es unangenehm, dass ihn der Alte so unverblümt auf seine Identität ansprach, und er versuchte, sich herauszuwinden. „Woher wollen Sie wissen, dass ich mit dem Sturz Battonis zu tun habe?“
Ein schwacher Versuch, dem der Alte mühelos begegnete.
„Ich lese hin und wieder Zeitung“, erklärte er trocken, während er das Wort „Zeitung“ aussprach, als hätte er einen unangenehmen Geschmack im Mund.
Und zum Fenster blickend ergänzte er: „Tja – das sind die Schattenseiten des Ruhmes.“
Sando stand auf, um einen Blick hinaus zu werfen.
„An deiner Stelle würde ich mich nicht am Fenster blicken lassen“, warnte der Alte.
Doch Sandos Neugier war stärker. Geduckt pirschte er sich heran und postierte sich im Schutz eines Gardinenstreifens.
Viel konnte er nicht sehen, nur zwei Polizisten, die Teil einer Absperrkette sein mochten, und etliche Reporter, die mit schussbereiten Kameras in der Hand auf die Beamten einredeten. Sollte dieser Aufruhr wirklich ihm gelten?
Sando stahl sich wieder fort von seinem Beobachtungsposten. Als er am Bett des alten Mannes vorbeikam, fiel ihm auf, dass dessen Haarspitzen seltsam gekräuselt waren. Es sah aus, als wären sie angesengt.
Jannis der Träumer , schoss es Sando durch den Kopf. Das ist der Mann von der Kundgebung am Eiffelturm!
Rasch kroch der Junge in die Wärme unter seiner Decke, denn die kühle Nachtluft, die durch das Fenster hereinkam, machte ihn frösteln.
„Ich
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