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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Magister
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habe Sie bei der Demonstration gesehen“, sagte er.
    Der Alte schien überrascht. „Du warst dort?“
    „Ja. Sie waren einer der Redner.“
    Der Kommentar des Alten erschöpfte sich in einem leisen Seufzer. Von draußen kamen die erregten Stimmen der Reporter, die nach wie vor nicht bereit waren, das Feld zu räumen, und Sando sagte: „Vielleicht sind sie ja wegen Ihnen hier?“
    Sein Bettnachbar lachte kurz auf.
    „Meine Geschichte verkauft sich nicht mehr, Junge. Der verrückte Spinner, den sie aus mir gemacht haben, bietet wenig Stoff für Neues, da er immer wieder das Gleiche erzählt. Keine der Zeitungen hat auch nur erwähnt, dass ich auf der Kundgebung gesprochen habe.“
    „Die Leute wollten Ihnen nicht zuhören.“
    „Sie hören nie zu, wenn es um die Wahrheit geht.“ Der Alte sagte es ohne Bitternis, wie eine sachliche Feststellung.
    „Warum reden Sie dann zu ihnen?“
    „Keiner soll nachher behaupten können, er habe von nichts gewusst.“
    „Was ist denn die Wahrheit, die keiner hören will?“
    „Sie alle wollen Retamin. Sie beten es an.“
    „Ist das nicht verständlich?“
    „Verständlich ja, aber töricht.“
    „Warum das?“
    „Katharsia ist ein Ort der Erlösung. Das Wichtigste ist nicht Retamin. Jeder Mensch sollte nach dem inneren Frieden suchen.“
    Sando erinnerte sich daran, was Ben von Jannis dem Träumer erzählt hatte. Er trat für die Auflösung des Hades ein und wurde dafür gehasst und verspottet. Nur wenige waren bereit, ihm zu folgen.
    „Hat der innere Frieden etwas mit dem Hades zu tun?“, fragte Sando.
    Der Alte starrte zur Decke und schwieg. Es schien, als konzentriere er seine Gedanken auf einen unsichtbaren Punkt. Und je länger sein Schweigen dauerte, desto stärker verspürte Sando eine Energie, die vom Nachbarbett her auf ihn einströmte, ihn durchdrang und seine Sinne weitete. Und als sein Gegenüber endlich zu sprechen begann, horchte er gespannt auf jedes seiner Worte.
    „Es ist die Hölle in den Seelen der Menschen, die sie dazu bringt, einen Hades zu fordern“, begann Jannis der Träumer mit eindringlicher Stimme. „Doch wir haben nicht das Recht, Höllen zu erschaffen. Sie wirken wie ein bösartiges Geschwür. Wie sollen wir den inneren Frieden finden, wenn der Pesthauch der Rache durch Katharsia zieht und die Seelen der Menschen vergiftet?“
    Die Stimme des Alten hatte etwas Magisches. Die Worte flossen in einem Gleichmaß über seine Lippen, als zelebriere er eine heilige Handlung. Sie klangen wie eine ewige Wahrheit, ein ewiges Gesetz, das in Stein gemeißelt war und dem zu widersprechen einem Sakrileg gleichkam. Sando ging ganz auf in diesen Worten, gab sich ihnen hin, spürte nicht das Fünkchen des Widerspruchs, das in ihm erglommen war. Mit den Augen hing er an den Lippen des Träumers und sehnte sich nach mehr. Doch der Redefluss versiegte von einem Moment zum anderen, mitten in einem Gedanken.
    Sando schreckte auf, bemerkte, dass ihm Jannis der Träumer aufmerksam in die Augen sah.
    „Was stört dich an meinen Worten, Junge?“
    Sando hatte Mühe, zu sich zu kommen, zu begreifen, was der Alte von ihm wollte.
    Jannis ließ ihm Zeit, bevor er nachhakte: „Etwas in dir widersetzt sich dem, was ich sage. Versuche herauszufinden, was es ist.“
    Sando schaute etwas ratlos drein.
    „Hat es mit dem Hades zu tun?“, versuchte Jannis, dem Jungen auf die Sprünge zu helfen.
    Und tatsächlich schlug nun aus dem Fünkchen des Widerspruchs, das Sando selbst kaum wahrgenommen hatte, ein kleines Flämmchen, und er sagte: „Im Hades sind die Seelen von Mördern und Kriegsverbrechern. Es geht nicht um Rache, sondern um Strafe.“
    „Sehr gut, Junge!“, lobte Jannis. „Ein schwerwiegendes Argument.“ Sein Blick fixierte wieder einen Punkt an der Decke. „Doch wäre es nicht besser für den inneren Frieden der Menschen, ihre Peiniger müssten ihnen Rede und Antwort stehen? Wie anders sollten die Seelen genesen können von ihren quälenden Wunden? Was aber geschieht stattdessen?“
    Sando antwortete nicht. Er lauschte nur, durchströmt von dieser seltsamen Energie, die seine Sinne schärfte.
    „Eine kleine Gruppe Auserwählter“, fuhr der alte Träumer fort, „die sich Einwanderungskommission nennt, sperrt Seelen weg für die Ewigkeit. Solange wir das zulassen, schwelen die Konflikte weiter – sowohl im Hades als auch in Katharsia. Es gibt Menschen, die schon seit Jahrtausenden keinen Frieden finden können. Ich sage dir, Junge, der Hades ist das

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