Katharsia (German Edition)
N.
Soll damit der Name „Ben“ gemeint sein , fragte sich Sando.
Wanderer gab jetzt tatsächlich den Nachnamen „Hakim“ ein.
„Schauen Sie auf das Feld!“, forderte der Präsident seine Gäste auf. In der Schattenfläche regte sich etwas. Ein einzelner Halm hatte zu wachsen begonnen und hörte erst damit auf, als seine metallene Ähre hell aufblitzte, weil sie von den Strahlen der Sonne getroffen wurde. Nun wuchs aus ihr ein Gewebe, das zart war wie Libellenflügel. Lautlos spannte es sich auf wie ein großer Regenschirm. Gebannt beobachteten die Gäste des Präsidenten diese Metamorphose. Allmählich begann der Schirm zu leuchten – und plötzlich gerann das Licht zu einem Bild. Es zeigte den Jungen Ben in Jerusalem!
„Das ist doch …“
Ben verschlug es die Sprache.
„Dieser Ort heißt zwar Schattenhain“, erklärte Samuel Wanderer, „aber eigentlich ist er das Gegenteil. Hier können die Opfer, wenn wir uns an sie erinnern, aus dem Schatten der Mächtigen treten.“
Während er dies sagte, hatte er einen weiteren Namen eingetippt. Neben Bens Halm wuchs nun ein zweiter ins Licht, entfaltete seinen zarten Schirm.
„Das bin ich“, sagte Gregor gerührt, als er sein Bild darauf erblickte.
Sando dachte an den Dritten im Bunde.
„Und Achmed?“, fragte er.
Ben fasste sich ein Herz, trat an die goldene Tafel heran.
Kurz darauf leuchtete auch Achmeds Bild im Kornfeld auf. Nun standen drei Halme einträchtig beieinander im Sonnenlicht und wiegten sanft im Wind. Es herrschte ein andächtiges Schweigen. Alle lauschten der leisen Musik, die von den klingenden Ähren kam.
„Damals waren wir unzertrennlich“, sagte Ben heiser.
Gregor verzog schmerzlich das Gesicht.
„Können wir weiter?“, fragte Wanderer.
Der Weg führte sie tiefer ins Kornfeld hinein. Bald erreichten sie einen zweiten goldenen Torbogen. Darauf stand geschrieben: „Im Namen des Kommunismus“ .
Nachdem sie ihn durchschritten hatten, stießen sie auf eine Tafel mit chinesischen Schriftzeichen. Sando war nicht imstande, sie zu lesen, aber er wusste auch so, welcher Name sich dahinter verbarg. Der Schatten Maos, des großen Führers, erstreckte sich so weit, dass ihn das Auge kaum erfassen konnte, und es brauchte einige Zeit, um ihn zu durchqueren.
Dann endlich wieder Sonne, blendend hell. Sando blinzelte. Doch kaum hatten sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt, brach erneut die Dämmerung über ihn und seine Gefährten herein.
Sie liefen und liefen, doch der Schatten schien kein Ende zu nehmen. Böiger Wind kam auf. Die zarten Ähren läuteten ein millionenfaches Totenlied. Die Tafel, die sie am Wege fanden, trug den Namen „Dschughaschwili“ .
Sando kannte den Namen nicht und schaute sich ratlos um. Der Wind frischte auf, klirrend schlugen die Halme gegeneinander, sodass er nur mit Mühe die beiden Silben verstand, die Heide Brandau aussprach: „Stalin!“
Sie zog ihn fort, hinaus aus dem Bannkreis dieses Mannes.
Das nächsten Tor hieß: „Im Namen der Reinheit der Rasse“ . Dahinter peitschte heftiger Wind die schattendunklen Ähren. Die Antwort war ein schriller Klagelaut. Er zerrte Sando an den Nerven.
Weiter , dachte er. Nur weiter! Als hätte Samuel Wanderer seine Gedanken erahnt, beschleunigte er seinen Schritt. Mit wehendem Haar lief er voran. Mrs. Brandau im Schlepptau stemmte er sich gegen den Wind, bis er an die Tafel kam, die zu diesem Areal gehörte. Hier verharrte er stumm, doch er hatte keinen Blick für den Namen des Diktators, der dort geschrieben stand. Vielmehr sah er reglos auf das windgezauste Kornfeld hinaus.
Mrs. Brandau löste sich von ihm, ging zu der Tafel und tippte einen Namen ein. Als sie wieder zurücktrat, schimmerte ein Lichtpunkt am Horizont.
„Schau durch das Fernrohr, Sando!“, sagte Mrs. Brandau und wies auf ein Stativ am Wegesrand.
Mit nahezu erdrückender Deutlichkeit erkannte der Junge das Bild eines Mannes in gestreifter Häftlingskluft, die Wangen eingefallen, die Augen tief in den Höhlen: Samuel Wanderer!
Sando bemerkte, dass Mrs. Brandau an die Seite des Präsidenten getreten war. Ihre Körper berührten sich. Verstohlen nahm er ihre Hand in die seine. Es sah aus, als verbände sie ein gemeinsames Schicksal.
Einer Eingebung folgend, tippte Sando den Namen „Brandau“ auf der Tafel ein und richtete das Fernrohr auf das silberne Blinken, das im Feld erschien. Er sah das Bild eines kleinen blonden Mädchens, das stolz ein rotes Fähnchen schwenkte. Mit
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