Katharsia (German Edition)
gewähren und folgte ihm mit dem Blick des Arztes, der nach einer Erklärung für das merkwürdige Verhalten seines Patienten sucht. An seinem Zimmer angelangt, öffnete er die Tür und Sando huschte hinein – doch auch hier fand er den Boden nicht frei von diesen entsetzlichen Spuren. Und überhaupt wirkte Doktor Fasins Sprechzimmer auf ihn wie ein Gruselkabinett. Ein Gewirr von Gelenkarmen, die wie überdimensionale Spinnenglieder den Raum durchzogen und mit Greifzangen, Kupferbürsten und Silberkegeln bewaffnet waren, verliehen ihm das Flair einer Alchimistenküche. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch eine Reihe von aquariumartigen Kokonbehältern, an deren Oberseite Trichter befestigt waren. Auch die an der Decke klaffenden Saugrohröffnungen und das Steuerpult mit Dutzenden von Reglern, von dem aus die rätselhafte Maschinerie gesteuert wurde, trugen zu Sandos mulmigem Gefühl bei. Er ließ sich auf einen der zwei Drehstühle, die an dem Pult standen, fallen. Sein Atem ging schnell. Doktor Fasin setzte sich neben ihn und wartete geduldig darauf, dass er sich wieder fing.
Es vergingen einige Minuten, bis Sando in der Lage war, dem Doktor seine Beobachtung zu schildern.
„Die Spuren sind überall … draußen auf dem roten Weg und sogar hier, in Ihrem … Sprechzimmer …“, schloss er und sah sich mit leisem Schauder um.
„Es ist unglaublich!“, sagte der Doktor schockiert. „Hier sind Seelenwarngeräte installiert. Warum schlagen sie nicht an?“
„Vielleicht reagieren sie nur auf intakte Seelen“, vermutete Sando. „Die im Sauger war so … kraftlos.“
Doktor Fasin dachte nach.
„Ja, das könnte es sein“, sagte er schließlich. „Seelen, deren Willen … oder anders ausgedrückt … deren Energie am Ende ist, können unsere Geräte offenbar nicht erfassen.“
Draußen auf dem Gang tauchte ein Mondmann auf. Sando konnte ihn durch die gläserne Wand sehen. Er stapfte zu dem herrenlosen Sauger und hob ihn auf.
„Er nimmt ihn mit!“, sagte Sando.
Doktor Fasin sprang zur Tür und hielt den Mann auf.
„Wo haben Sie zuletzt gearbeitet?“, fragte er.
„Trakt E“, lautete die Antwort.
„Ein bisschen genauer bitte.“
Doktor Fasins Stimme klang ungeduldig.
„Im Erdgeschoss, Abschnitt eins/sechs“, sagte der Mondmann.
Doktor Fasin bedankte sich kurz und kehrte zu Sando zurück. „Komm mit, Sando! Das schauen wir uns an.“
Entschlossen zog er Sando vom Stuhl und ging hinaus. Sando blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Das kalte Licht in der Halle blendete ihn. Er hielt sich dicht am Rand der roten Wege, wo es kaum Seelenspuren gab.
„Aber bitte nicht in den verbotenen Bereich treten“, bat Doktor Fasin. „Das gibt Alarm und anschließend großen Ärger.“
Sie erreichten den Eingang zu Trakt E. Sandos Blick verlor sich in der Tiefe des Stollens. Doktor Fasin bestieg ein kleines Fahrzeug. Es stand auf einer Schiene, die in den Tunnel hineinführte.
„Abschnitt eins/sechs!“, befahl er, nachdem Sando neben ihm Platz genommen hatte.
Das Gefährt setzte sich in Bewegung.
„Jetzt fahren wir einen Kilometer und sechshundert Meter weit in den Trakt hinein. Ich bin gespannt, was dort los ist.“
Erstmals kam Sando an Zellen vorbei, in denen Seelen schmachteten. Kokonverhangen zogen sie sich links und rechts ihres Weges dahin, kenntlich nur durch die Nummer, die schwarz an jeder Zelle prangte.
Sie fuhren über eine Weiche und stoppten unvermittelt.
„Sind wir schon da?“, fragte Sando.
Doch Doktor Fasin verneinte. „Wir warten auf den Gegenverkehr. Die Strecke ist eingleisig. Dies ist eine Ausweichstelle.“
Sando sah nach oben. Trittgitter erstreckten sich bis hinauf zum zehnten Stockwerk. Nur hier unten gab es massiven Boden. Die Wege links und rechts der Bahn waren etwa drei Meter breit. Dann begannen die Zellen. Jede hatte einen kleinen Vorbau ähnlich einem Windfang.
„Das sind Schleusen“, erklärte Doktor Fasin. „Hin und wieder muss ein Wachmann in die Zellen, um das Kokonmaterial auf Dichtheit zu prüfen. Doch trotz der Schleusen – vorwitzigen Seelen gelingt es manchmal, die Kontrolleure zu überlisten und aus den Zellen auszubrechen.“
Sando musste unwillkürlich lächeln, doch Doktor Fasin sagte ernst: „Das ist kein Spaß, Sando. Die Wachleute hier unten haben es mit einem unsichtbaren Gegner zu tun, der sie jedoch sehen und hören kann. Es ist ein beklemmendes Gefühl, wenn die Verständigung nur in eine Richtung funktioniert. Tag für
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