Katharsia (German Edition)
sie ausgelöst hat, kann ich noch nicht sagen. Spuren von äußerer Gewalt habe ich nicht gefunden. Im Moment ist sein Kreislauf stabil.“
„Im Moment? Und später?“
Der Arzt machte eine vage Handbewegung und sagte dann: „Wir werden ihn schon wieder hinbekommen.“
Beunruhigt beobachtete Sando, wie die Trage in das Rettungsmobil geschoben wurde. Hoch über ihm knatterte ein bunter Funkenregen. Bis zum Feuerwerker hatte sich die Nachricht von der Tragödie offenbar noch nicht herumgesprochen. Die Raketen zischten munter weiter, während die Leute in kleinen Gruppen diskutierten, was da geschehen sein mochte. Sando stand verloren dazwischen. Der Lärm der Böller übertönte das Chaos in seinem Kopf. Helle Rauchschwaden durchzogen die Menge. Sie verbreiteten einen kaum wahrnehmbaren Geruch, der den Jungen aufmerken ließ.
Etwas stimmte hier nicht! Feuerwerk roch anders. Sando schaute sich nach der Quelle der Schwaden um. Ein paar Dutzend Meter weiter entdeckte er eine Frau, genauer gesagt, den Kopf einer Frau, denn vom Hals an abwärts steckte sie in einer dichten Wolke aus Qualm. Trotz der Entfernung erkannte er Maria. Unverwandt musterte sie das Gebräu, das sie umwaberte, während ihr reicher Gönner hektisch um sie herumtanzte und mit den Armen wedelte. Zum Totlachen angesichts des Wirbels, der sich unter ihrem Blick unaufhaltsam zu drehen begann. Jamal al Din packte Maria, um sie von dem Kreisel wegzuziehen.
Sandos Füße liefen los.
„Junge pass auf!“
Der Ruf drang nicht in sein Bewusstsein. Und auch nicht die Sirene, die sich ihm näherte. Er sah nur Maria, die sich sträubte, mit Jamal al Din zu gehen.
Sando fühlte, dass ihn jemand zurückriss. Dicht vor ihm schoss das Rettungsmobil vorbei. Blitzend und heulend brachte es Massef weg – und als es die Sicht wieder freigab, war Maria verschwunden. Nur der Kreisel rotierte noch dort, wo sie eben gestanden hatte.
Langsam ging Sando darauf zu. Erst jetzt begriff er: Maria hatte den echten Hühnergott getragen! Irgendetwas hatte ihn aktiviert. Und in jenem Wirbel materialisierte sich nun ein Gedanke von ihr.
Er wartete. Geduldig. Achtete nicht auf die zunehmende Unruhe, die die Ballgäste um ihn herum ergriff, hörte nicht das Wort „Bombendrohung“, das wie ein Lauffeuer die Runde machte. Ebenso wenig interessierte es ihn, dass die Sicherheitskräfte in aller Eile begannen, das Gelände zu räumen. Er harrte aus.
Der Kreisel rotierte langsamer. Erste Umrisse zeichneten sich ab. Sando schloss die Augen. Er wollte sich überraschen lassen.
„Achtung, Achtung! Wir bitten alle Gäste, das Gelände unverzüglich zu verlassen!“
Da können sie lange warten , dachte Sando. Ich gehe nicht, ehe ich Marias Gedanken gesehen habe.
„Achtung, Achtung! Wir fordern alle Gäste auf …“
In dem aufgeregten Trappeln und Rufen um ihn herum konzentrierte er sich auf das abschwellende Pfeifen des Kreisels. Endlich brach das Geräusch ab. Vorsichtig öffnete er die Augen und erblickte ein schwarzes, unförmiges Etwas auf drei krummen Beinen. Er ging darauf zu, berührte es. Schnell zog er seine Hand wieder zurück, denn es begann zu wackeln wie ein Pudding.
Was sollte das sein?
„Achtung, Achtung! Wir …“
Er ignorierte die Lautsprecherdurchsage und begann, Marias Traumbild zu umkreisen. Sollte es etwa …?
Sando wagte den Gedanken kaum zu denken. Das wackelige Monstrum erinnerte ihn entfernt an einen Konzertflügel. Schwarz-weiße Splitter! Das mussten die Tasten sein! Kein Zweifel! Sando stand vor dem expressionistischen Zerrbild eines Flügels mit geknickten Beinen und zerborstener Tastatur. Nichts war an dem Platz, wo es hingehörte.
Augen! Zusammenhanglos hingen sie im Raum und schauten ihn an. Es gab offenbar auch einen Menschen in diesem dreidimensionalen Bild. Vielleicht Maria selbst? Sando suchte nach Anhaltspunkten – und fand in einem Haufen wirr verschlungener Drähte, wahrscheinlich gerissene Saiten, einen behaarten Klumpen. Es war ein augenloser Kopf mit unförmigen Auswüchsen für Nase und Ohren. Vorgewölbte Wülste stellten Lippen dar. Sie waren schiefgezerrt und zerfetzt von einer Narbe.
Entgeistert starrte Sando auf das bizarre Gebilde. Maria hatte sich erinnert! An das Klavierspielen! An ihn! Aber wie sah sie aus, die Erinnerung? Zusammenhanglose Fetzen. Ein Albtraum.
Sando war völlig durcheinander, entsetzt und froh zugleich.
„Da ist er ja! Endlich! Komm mit, Sando!“
Gregor packte ihn am Arm.
„Komm, wir müssen
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