Katharsia (German Edition)
wichtig.“
Er schwebte hinüber zum Flügel, der aufgeklappt war. Sando hatte vor dem Ball noch ein wenig gespielt, dann aber über der Frage, welche Kleidung er tragen sollte, vergessen, das Instrument wieder zu schließen.
„Chopin“, las Jannis. „Kannst du das spielen?“
Er geisterte über den Noten entlang.
„Ich komme nicht zum Üben. Es ging schon mal besser.“
„Spiel es mir vor“, bat Jannis.
„Jetzt?“ Sando lehnte das rundweg ab. „Sagen Sie mir lieber, warum Sie hier sind!“
Jannis kam zum Bett zurück und blickte Sando in die Augen. „Der Hades macht dir zu schaffen. Am liebsten würdest du nicht mehr hinfahren, nicht wahr?“
Sando sah die Seele abweisend an.
„Das ist nicht schwer zu erraten. Wer fährt schon gern zur Hölle …“
Jannis lächelte verständnisvoll und zirpte: „Du sollst nach Umtrieben der Seelenretter suchen und weißt nicht, wo du beginnen sollst.“
„Das ist richtig“, gab Sando zu. „Aber Sie werden mir auch nicht helfen können.“
„Wer weiß“, sagte Jannis dunkel. „Wenn Seelenretter dort unten aktiv sind, bist du bestimmt schon darauf gestoßen. Du warst nur noch nicht in der Lage, es zu erkennen.“
„So blind bin ich nun auch wieder nicht“, wehrte sich Sando. „Den Seldschukendolch auf dem Schreibtisch des Direktors habe ich sehr wohl gesehen.“
„Seldschukendolch?“
„Oh nein, die Geschichte erzähle ich Ihnen jetzt nicht. Nicht um diese Zeit.“
Sando zog sich die Decke über den Kopf. Doch Jannis ließ sich nicht beirren. Geduldig harrte er aus, bis der Junge, der ohnehin keinen Schlaf fand, seufzend nachgab.
Er berichtete von Wolfenhagen, dem blutrünstigen Kreuzfahrer, dessen Dolch auf rätselhaften Wegen in den Besitz der Seelenretter gelangt war. Er erzählte, dass er, Sando, ein Exemplar bei Ex-Präsidentenberater Battoni und eine weitere Kopie bei Hadesdirektor Kamlan entdeckt hatte.
Jannis hörte aufmerksam zu und konstatierte dann: „Sie haben also ihre Finger schon drin im Hades.“
„So weit war ich vorhin bei meinem Gespräch mit dem Präsidenten auch schon“, bemerkte Sando grantig.
Jannis ignorierte den Einwurf.
„Welchen Eindruck hattest du von Wolfenhagen? War er ein primitiver Schlächter?“
„Nein. Bei aller Grausamkeit wirkte er intelligent, ja, sogar kultiviert.“
Jannis machte ein besorgtes Gesicht. „Das gefällt mir gar nicht. Ist dir seine Seele im Hades schon begegnet?“
„Nein, bisher nicht.“
„Dieser Dolch deutet auf ein Bündnis zwischen Kreuzfahrern und Seelenrettern“, sinnierte Jannis. „Wie weit mag ihr Einfluss schon gehen im Hades?“
„Seelen haben dort unten überhaupt keinen Einfluss“, widersprach Sando. „Im Gegenteil. Die Wachmannschaften foltern sie, weil sie sich besser fühlen danach. Aber das hat mit den Seelenrettern nichts zu tun. Im Hades wird schon seit jeher gefoltert. Seit heute erst ist es verboten. Der Erlass des Präsidenten war überfällig.“
„Ich nehme an, du hast ihn darum gebeten …“ Jannis sah Sando fragend an. Und auf das Nicken des Jungen hin sagte er freundlich: „Alle Achtung, Sando, du hast das Herz auf dem rechten Fleck!“
Sando hob abwehrend die Hände. „Sie denken zu gut von mir, Jannis. Heute gab es eine Situation, da fand ich, offen gestanden, die Folter gerecht.“
„Wie das?“
Jannis machte ein erstauntes Gesicht.
„Sie hatten sich den Mörder meiner Freundin Maria vorgenommen, Jussuf Mahmoud.“
„Es ist immer das Gleiche.“ In Jannis’ Stimme schwang Enttäuschung. „Wenn es einen selbst betrifft, sind alle schönen Reden von Menschlichkeit und Moral vergessen.“
„Verdient so ein Mensch Gnade?“, fragte Sando verstimmt.
„Gnade kann man nicht verdienen, sie ist immer ein Geschenk. Hier geht es aber nicht um Gnade, sondern um Recht. Folter
verstößt gegen das Recht – und das weißt du genau, Sando.“
„Er hat sich das Recht genommen, Maria zu töten! Einfach so!“, brauste Sando auf. „Er hat niemanden gefragt! Und ich soll es hinnehmen?!“
„Wenn du es ihm außerhalb des Gesetzes heimzahlst, bist du nicht besser als er“, sagte Jannis bestimmt.
Sando war müde und nicht gewillt, diese Diskussion weiterzuführen. Er kehrte Jannis den Rücken zu.
„Was ist mit Jussuf Mahmoud geschehen?“, bohrte der nächtliche Besucher unbeirrt weiter. Sando schwieg. Ihn wurmte, dass Jannis Recht hatte. Doch wie konnte er sich wehren gegen dieses Gefühl, das nach Vergeltung schrie? Er lag da mit
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