Katharsia (German Edition)
der Mitteilungsdrang Lemmings die Oberhand. „Ich habe ihm viel zu verdanken“, begann er. „Er hat mir geholfen, als ich … als ich ganz unten war … so, wie ich aussehe … Du weißt, was das heißt, Hasenschar…“
Beinahe erschrocken unterbrach er sich, sandte Sando einen verständnisheischenden Blick.
„Na ja … es ist wie … Spießrutenlaufen.“
Nach dieser Eröffnung machte er eine Verschnaufpause. Sandos Mitleid hielt sich in Grenzen. Der junge Mike hatte ihn jahrelang wegen seines Aussehens gedemütigt.
„Doktor Fasin hat verstanden, wie ich mich fühle“, fuhr Lemming mit leuchtenden Augen fort. „Er hat mir meine Würde wiedergegeben, mich zum Führer einer seiner geheimen Sturmgruppen gemacht. Mit der Motorradbande im Rücken hat es niemand gewagt, mir seinen Respekt zu verweigern.“
Er trat einen Schritt auf Sando zu.
„Auf Doktor Fasin lasse ich nichts kommen. Ich werde ihm folgen! Überallhin!“
Sando nickte. „Darf ich dich etwas fragen, Mike?“
Lemming, dem es offensichtlich wohltat, mit jemandem reden zu können, ließ sich dazu hinreißen, sich zu Sando zu setzen.
„Spuck es aus!“, sagte er flapsig.
„Aber bitte, sei nicht sauer! Es ist eine Frage, die mich schon lange beschäftigt.“
Sando schob Mike die Keksschachtel hin. Der bediente sich lachend. Ein offenes Lachen, das Sando noch nie von Mike gehört hatte. „Kein Problem, nun rede schon!“
„Wie kommt es, dass du mit einer solchen Narbe nach Katharsia gekommen bist?“
Lemmings Miene verfinsterte sich. Sando befürchtete schon, dass er zu weit gegangen war, aber sein Gegenüber begann zu sprechen: „Ich habe lange gebraucht, dies zu begreifen. Erinnerst du dich, als ich im Schwarzen See versank? Dieser Augenblick war der längste meines Lebens. Die ganze Zeit sah ich dich. Du standest auf dieser verfluchten Insel mitten im See. Dein Ruf ,Feigling!‘ gellte mir in den Ohren und mein Hass auf dich verzerrte dein Gesicht zu einer Fratze. Sie verfolgte mich, diese Fratze, bis in den schwarzen Tunnel, bis in das Licht, das danach kam. Mein ganzes Denken war ausgefüllt von diesem Bild. Unablässig schrie ich: ,Hasenscharte!‘, wie unter Zwang: ,Hasenscharte!‘ Und dann, als ich glaubte, es wäre endlich vorbei, als ich mich wiederfand in diesem famosen, gelobten Land, begegnete ich dieser Fratze wieder, als ich in den Spiegel sah.“
Mechanisch stopfte sich Lemming einen Keks in den Mund, kaute gedankenverloren. Dann schaute er Sando an und sagte bitter: „Du hattest offenbar ein besseres Bild im Kopf, als du nach Katharsia kamst.“
„Es scheint so“, räumte Sando ein. „Aber deine Demütigungen habe ich bis heute nicht vergessen.“
Lemming seufzte.
„Du wirst es nicht glauben, ich bin fast geneigt, dich um Verzeihung zu bitten. Aber es ist seltsam, irgendetwas sträubt sich in mir. Nimm es mir nicht übel, Hasensch…“
Er grinste verlegen.
„Siehst du? Es ist noch nicht so weit. Aber vielleicht kommt es ja noch.“
Abrupt stand er auf und nahm Haltung an. Doktor Fasin betrat den Raum. Er wirkte energiegeladen und konzentriert.
„Es ist so weit, Sando! Ich rate dir, das Geschehen aufmerksam zu verfolgen.“
Mit einem Stirnrunzeln quittierte er, dass Sando zwar freundlich nickte, aber keine Anstalten machte, sich vor ihm aus dem Sessel zu erheben.
„Nach meiner Machtübernahme erwarte ich deine Entscheidung, ob du für oder gegen mich bist.“
Schon im Hinausgehen wies er den Bewacher an: „Herr Lemming, Sie begleiten den Gefangenen in die Kommandozentrale und behalten ihn immer gut im Auge!“
„Zu Befehl, Eure Exzellenz!“
Lemming knallte begeistert die Hacken zusammen. Offensichtlich ging mit diesem Auftrag sein Wunschtraum in Erfüllung, hautnah an dem historischen Umschwung teilhaben zu dürfen.
Kaum war der Doktor weg, blaffte er Sando an: „Bist du wahnsinnig, vor ihm sitzen zu bleiben?!“
Sando zuckte die Schultern. „Und wenn schon …“
„Glaub nicht, dass ich dir wegen unseres Gespräches nun alles durchgehen lasse. Wenn du dem Doktor in die Quere kommst, wirst du mich kennenlernen!“, plusterte sich Lemming auf.
„Ist ja gut“, gab Sando zurück. „Können wir jetzt gehen?“
Sie traten hinaus auf den Gang. Vor der Tür der Kommandozentrale wartete bereits ein Pulk von Leuten auf Einlass, darunter, umringt von Bewachern, seine Gefährten. Aus dem elenden, abgerissenen Häuflein war eine unauffällige, in einheitliches Häftlingsgrau gekleidete Gruppe
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