Kathedrale
Traditionen infrage gestellt – und dennoch sind Sie so unflexibel, wenn es um Ohalu geht? Sie haben sein Werk doch gelesen , oder etwa nicht?«
Er antwortete mit einem knappen Nicken. »Ja, auch wenn es mich schmerzte, die Wahrheiten der Propheten derart pervertiert zu sehen.«
»Dann müssen Sie wissen, wie viele seiner Weissagungen wahr geworden sind«, sagte sie resolut. »Die Worte, die er vor Jahrtausenden niederschrieb, wurden zu unserer Wirklichkeit. Ohalu sah keine vage Zukunft voraus, sondern unser Leben, unsere Gegenwart.«
Damit legte Mika den Finger direkt in die Wunde. Yevir hatte sich schon oft – vergeblich – bemüht, bei den Drehkörpern Antwort auf die eine brennende Frage zu erhalten: Warum sind so viele von Ohalus verfluchten Prophezeiungen derart zutreffend?
Er wusste genau, dass es in Bajors religiösen Schriften nicht an Vorhersagungen mangelte. Manche waren vage und allgemein gehalten, andere spezifischer. Doch legitime Prophezeiungen mussten geprüft, interpretiert, entschlüsselt werden, um ihren Bezug zum aktuellen Geschehen zu erkennen. Warum schien keine von Ohalus Aussagen einer derartigen Klärung zu bedürfen? Bisher hatten sie sich als unglaublich zutreffend erwiesen. Waren die Worte dieses Ketzers aber in ihrer Gesamtheit wahr, würde sich alles, worauf Bajors Religion fußte, als Lüge entpuppen. Dann wären die Propheten nicht die Beschützer dieser Welt, sondern Angehörige eines Volkes, das Yevirs Spezies beobachtete, als sei sie ein Haufen Käfer unter dem Mikroskop, und sich nur gelegentlich zu einem helfenden Eingriff erweichen ließ.
Und das konnte Yevir nicht hinnehmen. Er kannte die Propheten doch, kannte sie mit seinem Herzen! Der Abgesandte hatte ihn berührt und ihn mit ihrer Kraft erfüllt. Yevirs Mission, seine Zukunft, sein ganzes Streben fußte auf seinem felsenfesten, zweifelsfreien, bedingungslosen Glauben an die Propheten und Ihren Plan.
All das schoss ihm durch den Kopf, während er nach den richtigen Worten suchte. Schließlich sagte er: »Sie wurden von Solis unterrichtet, Mika. Von Dukat. Nur die Propheten mögen wissen, von wem noch. Aber deshalb sollten Sie besser als viele andere wissen, dass die meisten Prophezeiungen mehr als eine Lesart bieten. Insbesondere Personen, die sie für ihre eigenen Pläne nutzen wollen, neigen dazu, sie falsch zu interpretieren. Je nach Kontext kann Grau Schwarz oder Weiß ähneln, nicht wahr? Entsprechend scheint selbst im Ketzerischen Trost zu liegen, insbesondere in unruhigen Zeiten.«
Ihrem Lächeln haftete etwas Boshaftes an. »Warum behaupten Sie dann, das Grau sei Schwarz und nicht Weiß? Haben Sie Ihren Geist und Ihr Herz je für die Möglichkeiten geöffnet, die Ohalu Bajor aufzeigt? Ja, unsere Welt ist im Aufruhr. Sie durchläuft einen Wandel, eine Wiedergeburt, und erhebt sich aus der Besatzung in die Freiheit, vom Krieg in den Frieden, aus der Eigenständigkeit in eine interstellare Koalition. Ist es nicht möglich, dass auch der Glaube des bajoranischen Volkes eine solche Wiedergeburt benötigt?«
»Was die Bajoraner benötigen, ist der Glaube an den unveränderlichen Willen der Propheten«, erwiderte Yevir betont fest. »Insbesondere in Zeiten wie diesen.« Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob ihn der Abgesandte nur auf den Weg zum Amt des Kais gebracht hatte, damit er Zeuge des Zerfalls der gesamten Glaubensgemeinschaft wurde. Der Gedanke war wie eine Lanze, die sich in die tiefsten Winkel von Yevirs Seele bohrte.
»Da mögen Sie recht haben«, sagte Mika. »Es ist verlockend, unser Schicksal in den Händen allmächtiger, fürsorglicher Wesen zu vermuten. Es entledigt uns aller Verantwortung. Was immer wir tun, was immer uns angetan wird, ist der Wille der Propheten. Und wer sich ihnen verweigert, bringt Schande über sich.«
»Niemand kann sich der Wahrheit der Propheten verweigern, mein Kind.« Yevir dachte an die Schreie einer tödlich verwundeten Widerstandskämpferin, einer jungen Frau, die in seinen Armen gestorben war. Fünfzehn Jahre mochte das nun her sein. Mit ihrem letzten Atemzug hatte sie die Propheten verflucht und behauptet, sie hätten sie, ihre Familie und Bajor verlassen. Er musste die Augen schließen, um die grauenhafte Erinnerung zu vertreiben. »Niemand kann sich der Wahrheit der Propheten verweigern«, wiederholte er. Seine Worte waren wie ein Rettungsseil.
Doch Mika machte keinerlei Anstalten, ihn so leicht vom Haken zu lassen. »Wo waren die Propheten denn während der
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