Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Menschen umringten sie, um von den erschöpften Reisenden Neuigkeiten zu erfahren. Mireille führte ihr Pferd zu einer Postkutsche, die in der Nähe angehalten hatte. Der Wagenschlag wurde geöffnet, und die Reisenden stiegen aus.
Ein junger Soldat in der roten und dunkelblauen Armeeuniform sprang als erster heraus und half dem Kutscher, Kisten und Truhen vom Wagendach zu heben.
Mireille stand nahe genug, um zu sehen, daß dieser junge Mann ungewöhnlich schön war. Die langen kastanienbraunen Haare fielen ihm offen auf die Schultern. Er hatte große blaßgraue Augen und lange, dichte Wimpern, die die durchsichtige Blässe seiner Haut betonten. Die schmale römische Nase war etwas nach unten gebogen. Die schöngeformten Lippen verzogen sich verächtlich, als er einen kurzen Blick auf die Menge warf und dann den Kopf ab wandte.
Mireille sah, daß er jemandem half, aus der Postkutsche zu steigen - es war ein bildschönes Mädchen, das kaum älter als fünfzehn Jahre sein konnte. Sie sah dem Soldaten sehr ähnlich, sie waren zweifelsohne Bruder und Schwester. Dafür sprach auch die rührende Zärtlichkeit, mit der er ihr beim Heruntersteigen half. Sie sind ein romantisch aussehendes Paar, dachte Mireille - wie der Held und die Heldin in einem Märchen...
Alle Reisenden, die gerade eingetroffen waren, wirkten verängstigt und völlig erschöpft, während sie sich den Staub von den Kleidern klopften. Aber am meisten mitgenommen war das Mädchen in Mireilles Nähe. Sie war leichenblaß und zitterte, als werde sie im nächsten Moment ohnmächtig. Der Soldat versuchte, sie durch die Menge zu führen, als ein alter Mann, der neben Mireille stand, seinen Arm ergriff.
„Wie sieht es auf der Straße nach Versailles aus, mein Freund?“ fragte er.
„Ich würde an Ihrer Stelle heute nacht nicht versuchen, nach Versailles zu fahren“, erwiderte der Soldat höflich, aber laut genug, daß alle Umstehenden es hörten. „Die Nachttöpfe sind in Scharen unterwegs, und meine Schwester ist am Ende ihrer Kräfte. Die Fahrt hat beinahe acht Stunden gedauert, denn wir sind unzählige Male angehalten worden, seit wir St-Cyr verlassen haben...“
„St-Cyr!“ rief Mireille. „Ihr kommt von St-Cyr? Aber das ist mein Ziel!“ Der Soldat und seine Schwester sahen Mireille an, und das Mädchen bekam große Augen.
„Aber - aber Sie sind eine Dame!“ flüsterte sie und bückte verwirrt auf Mireilles Aufzug. „Sie haben sich als Mann verkleidet!“
Der Soldat sah Mireille prüfend, aber anerkennend an. „Sie wollen also nach St-Cyr?“ fragte er. „Hoffen wir, daß Sie nicht ins Kloster eintreten wollen!“
„Kommen Sie aus der Klosterschule?“, fragte Mireille. „Ich muß unbedingt noch heute nacht dorthin. Es ist von großer Wichtigkeit. Sie müssen mir sagen, wie die Lage aussieht.“
„Hier können wir nicht bleiben“, erwiderte der Soldat, „meiner Schwester geht es nicht gut.“ Er nahm eine große Tasche auf die Schulter und bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Mireille folgte ihnen mit dem Pferd am Zügel. Als die drei am Rand des Platzes angelangt waren, richtete das Mädchen die dunklen Augen auf Mireille.
„Sie müssen einen schwerwiegenden Grund haben, wenn Sie St-Cyr noch heute nacht erreichen wollen., sagte sie. „Die Straße ist gefährlich, und es ist mutig von Ihnen, in solchen Zeilen allein zu reisen.“
„Auch wenn Sie ein so gutes Pferd haben“, ergänzte der Soldat und schlug dem Tier auf die Flanke, „und verkleidet sind. Wenn ich keinen Urlaub genommen hätte, um Maria-Anna nach Hause zu begleiten, als die Klosterschule geschlossen wurde -“
„Man hat St-Cyr geschlossen?“ rief Mireille. „Dann habe ich wirklich keine Hoffnung mehr!“ Maria-Anna legte ihr tröstend die Hand auf den Arm.
„Hatten Sie Freunde in St-Cyr?“ fragte sie besorgt. „Oder Familienangehörige? Vielleicht kenne ich sie.. .“
„Ich wollte dort Schutz suchen“, begann Mireille unsicher, denn sie fragte sich, wieviel sie den Fremden anvertrauen durfte. Aber es blieb ihr keine andere Wahl. Wenn die Schule geschlossen war, mußte sie ihren Plan aufgeben und einen anderen Ausweg suchen. In einer so verzweifelten Lage mußte sie diesen Leuten Vertrauen.
„Ich kenne zwar die Leiterin dort nicht“, erzählte sie, „ich hatte aber gehofft, sie könnte mir helfen, Kontakt zu meiner früheren Äbtissin aufzunehmen. Sie heißt Madame de Roque.“
„Madame de Roque!“ rief das Mädchen, und ihre zarten Hände schlossen sich fest
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