Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
die Äbtissin ungerührt las. Von der Feder tropfte immer noch Tinte. „Ich verlange eine Erklärung - bevor ich dich ins Gefängnis werfen lasse!“
„Wenn ich ins Gefängnis geworfen werden soll“, erwiderte die Äbtissin lächelnd, „dann verstehe ich nicht, was eine Erklärung daran ändern kann - obwohl sie für dich vielleicht von allergrößter Bedeutung sein mag.“ Sie blickte wieder auf den Text.
„Was soll das heißen?“ fragte die Zarin und stellte die Feder in das Tintenfaß zurück. „Du weißt genau, was dort steht - die Verweigerung der Unterschrift ist Hochverrat! Jeder französische Emigrant, der auch in Zukunft unter meinem Schutz stehen möchte, wird diesen Eid unterschreiben. Diese Nation zügelloser Verbrecher hat ihren König ermordet! Ich habe Botschafter Genet vom Hof verwiesen. Ich habe alle diplomatischen Beziehungen zu dieser Marionettenregierung abgebrochen. Ich habe die russischen Häfen für französische Schiffe gesperrt!“
„Ja, ja, ja“, erwiderte die Äbtissin etwas ungeduldig, „aber was hat all dies mit mir zu tun? Ich bin wohl kaum eine Emigrantin. Ich habe Frankreich verlassen, als die Türen noch weit offenstanden. Warum soll ich alle Beziehungen zu meinem Land lösen - und auch auf einen freundlichen Briefwechsel verzichten, der keinem schadet?“
„Durch deine Weigerung gibst du zu erkennen, daß du dich mit diesen Teufeln verbündet hast!“ rief Katharina bebend. „Sie haben über die Hinrichtung eines Königs abgestimmt. Mit welchem Recht nehmen sie sich diese Freiheit? Dieser Abschaum der Straße - sie haben ihn kaltblütig ermordet wie einen gemeinen Verbrecher. Sie haben ihm die Haare abgeschnitten und ihn bis auf das Hemd ausgezogen. Sie haben ihn auf dem Schinderkarren durch die Straßen von Paris gefahren, damit der Pöbel ihn anspucken konnte! Als er vor der Guillotine sprechen wollte - seinem Volk die Sünden vergeben wollte, ehe sie ihn wie eine Kuh schlachteten -, haben sie ihm gewaltsam den Kopf auf den Block gelegt und die Trommeln schlagen lassen...“
„Ich weiß“, sagte die Äbtissin ruhig, „ich weiß.“ Sie legte die Pergamentrolle auf den Sekretär, stand auf und sah ihre Freundin an. „Aber ich kann nicht auf meine Kontakte mit Frankreich verzichten, trotz aller Erlasse, die du vielleicht für notwendig hältst. Es gibt etwas Schlimmeres - etwas sehr viel Schlimmeres als den Tod eines Königs, vielleicht schlimmer als der Tod aller Könige.“
Katharina sah die Äbtissin erstaunt an, als diese zögernd die vor ihr liegende Bibel aufschlug, den Brief herausnahm und ihn ihr reichte.
„Einige Figuren des Montglane-Schachspiels sind wahrscheinlich verlorengegangen“, sagte sie.
Katharina die Große, die Zarin aller Reußen, saß an dem schwarzweißen Schachbrett der Äbtissin gegenüber. Sie nahm einen Springer und stellte ihn in die Mitte. Sie sah erschöpft und krank aus.
„Ich verstehe dich nicht“, sagte sie leise. „Wenn du die ganze Zeit über gewußt hast, wo die Figuren sind, warum hast du es mir nicht gesagt? Warum hast du mir nicht vertraut? Ich dachte, sie seien überall verstreut...“
„Das waren sie“, erwiderte die Äbtissin und blickte auf das Spiel, „aber in Händen, die ich glaubte unter Kontrolle zu haben. Jetzt sieht es so aus, als hätte ich mich geirrt. Außer den Figuren fehlt auch eine der Spielerinnen. Ich muß sie wiederfinden.“
„Ja, das mußt du“, stimmte ihr die Zarin zu, „und jetzt begreifst du wohl, daß du dich sofort hättest an mich wenden müssen. Meine Spione sind in jedem Land. Wenn jemand die Figuren finden kann, dann ich.“
„Hör auf“, sagte die Äbtissin, rückte mit der Dame vor und schlug einen Bauern. „Als diese junge Frau verschwand, waren acht Figuren in Paris. Sie wird nicht so töricht gewesen sein, die Figuren mitzunehmen. Aber nur sie weiß, wo sie versteckt sind, und sie vertraut niemandem, wenn sie nicht sicher sein kann, daß der Betreffende von mir geschickt wurde. Deshalb habe ich Mademoiselle Corday geschrieben. Sie war Leiterin des Klosters in Caen. Ich habe sie gebeten, nach Paris zu reisen, um die Spur der Verschwundenen aufzunehmen, ehe es zu spät ist. Wenn sie sterben sollte, dann stirbt mit ihr das Wissen, wo sich die acht Figuren befinden. Nachdem du meinen Postboten, Botschafter Genet, ausgewiesen hast, kann ich ohne deine Hilfe die Verbindung mit Frankreich nicht länger aufrechterhalten. Mein letzter Brief ist mit seinem diplomatischen
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