Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
sie die spitzen Sandkörner auf die Haut prallen und in Mund, Nase und Ohren dringen. Sie legte sich flach auf den Boden und versuchte, nicht zu atmen, während der Ton lauter und immer lauter wurde - und sich schließlich wie ein tosendes Meer anhörte.
„Der Schwanz der Schlange“, flüsterte Schahin und legte ihr den Arm so um die Schulter, daß sich vor ihrem Mund eine Kuhle bildete und sie atmen konnte. „Sie erhebt sich als Wächterin des Tors. Das bedeutet, wenn es Allahs Wille ist, daß wir leben -, werden wir morgen das Tassili erreichen.“
ST. PETERSBURG März 1793
Die Äbtissin von Montglane saß in dem riesigen Salon ihrer Gemächer im kaiserlichen Palast in Petersburg. Die schweren, bestickten Vorhänge, hinter denen Türen und Fenster verschwanden, ließen kein Licht eindringen; in dem Raum halte man dadurch das Gefühl von Sicherheit. Vor diesem Morgen hatte die Äbtissin geglaubt, sie sei in Sicherheit und auf alle Eventualitäten vorbereitet. Jetzt erkannte sie ihren Irrtum.
Um sie herum saß das halbe Dutzend Kammerfrauen, die Zarin Katharina ihr zugeteilt hatte. Sie saßen schweigend, mit gebeugtem Kopf über Ihren Stickereien und beobachteten sie aus den Augenwinkeln, damit sie aber jede ihrer Bewegungen Bericht erstatten konnten. Die Äbtissin bewegte die Lippen, murmelte ein Ave und ein Credo, so daß die Damen glaubten, sie sei tief im Gebet versunken.
Die Äbtissin saß an dem französischen Sekretär, schlug ihre ledergebundene Bibel auf und las verstohlen zum dritten Mal den Brief, den der französische Botschafter ihr am frühen Morgen heimlich zugesteckt hatte - seine letzte Tat vor dem Eintreffen des Schlittens, der ihn zurück nach Frankreich bringen sollte.
Der Brief stammte von Jacques-Louis David. Mireille war verschwunden - sie war während der Septembermorde aus Paris geflohen und hatte möglicherweise Frankreich verlassen. Aber Valentine, die bezaubernde Valentine war tot. Und wo waren die Schachfiguren? fragte sich die Äbtissin verzweifelt. Davon stand in dem Brief natürlich nichts.
In diesem Augenblick hörte man im Vorzimmer einen lauten Schlag, und nach einem metallischen Klirren folgte aufgeregtes Geschrei. Über allem erhob sich die laute Stimme der Zarin.
Die Äbtissin blätterte in der Bibel, um den Brief zu verdecken. Die Kammerfrauen warfen sich besorgte Blicke zu. Die Tür zu den inneren Gemächern flog auf, der schützende Vorhang wurde von der Wand gerissen und fiel unter dem Klirren der Messingringe auf den Boden.
Die Hofdamen sprangen entsetze auf - Nähkörbe, Garne und Stoffe fielen durcheinander, als Katharina in den Raum stürmte und draußen die verstörten Wachen wieder Aufstellung nahmen.
„Hinaus! Hinaus! Hinaus!“ schrie sie, lief durch den Raum und schlug dabei mit einer starren Pergamentrolle auf ihre Handfläche. Die Kammerfrauen stoben auseinander. Auf ihrer panikartigen Flucht vor dem Zorn der Zarin stießen sie im Vorzimmer mit den Wachsoldaten zusammen, und dann fielen die äußeren Türen mit lauten Knallen ins Schloß. In diesem Augenblick erreichte Katharina den Sekretär.
Die Äbtissin lächelte sie ruhig an. Die Bibel lag geschlossen vor ihr auf der Schreibplatte mit den kunstvollen Intarsien. „Meine liebe Sophie“, sagte sie freundlich, „nach so langer Zeit kommst du wieder einmal zur Morgenandacht zu mir. Ich schlage vor, wir beginnen mit der Buße...“
Die Zarin warf die Pergamentrolle auf die Bibel. Ihre Augen glühten vor Erregung. „ Du beginnst mit der Buße!“ schrie sie. „Wie kannst du es wagen, mir zu trotzen? Wie kannst du es wagen, mir den Gehorsam zu verweigern? Mein Wille ist in diesem Staat Gesetz! Dieser Staat gewährt dir seit über einem Jahr Schutz - obwohl meine Ratgeber und meine Vernunft sich dagegen ausgesprochen haben! Wie kannst du es wagen, dich über meinen Befehl hinwegzusetzen?!“ Sie griff nach dem Pergament und entrollte es vor dem Gesicht der Äbtissin. „Unterschreibe!“ schrie sie, riß eine Schreibfeder aus dem Tintenfaß und vertropfte mit bebender Hand überall auf dem Sekretär Tinte. Dann schrie sie noch einmal mit vor Zorn dunkelrot glühendem Gesicht: „Unterschreibe!!!“
„Meine liebe Sophie“, sagte die Äbtissin ruhig und nahm Katharina das Pergament aus der Hand, „ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Sie studierte den Text, als habe sie ihn noch nie gesehen.
„Plato Zubow hat mir gesagt, daß du dich weigerst zu unterschreiben!“ schrie die Zarin, während
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