Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Briefe hast du diesem Mann gegeben?“
David war vor Angst blaß geworden und dachte fieberhaft nach. Hatte er sich in Robespierre getäuscht? Vielleicht hatte Mireille recht... „Fünf“, sagte er leise, „Ich habe ihre Namen notiert. Das Blatt liegt in meinem Arbeitszimmer.“
„Fünf Nonnen“, flüsterte Mireille, „fünf Tote - und ich hätte sie retten können, wenn ich hiergewesen wäre." Sie starrte fassungslos ins Leere.
„Tot?' fragte David. „Aber er hat sie nicht verhört. Er stellte immer nur fest, daß sie verschwunden waren - alle.“
„Wir können nur beten, daß es die Wahrheit ist“, sagte sie und blickte ihn an. „Onkel, diese Schachfiguren sind gefährlicher, als du dir vorstellen kannst. Wir müssen herausbekommen, was Robespierre weiß. Aber er darf nicht erfahren, daß ich hier bin. Und Marat - wo ist er? Denn wenn dieser Mann davon etwas ahnt, dann sind alle Gebete umsonst.“
„Er ist zu Hause und schwer krank“, flüsterte David. „Er ist krank, hat aber mehr Macht als je zuvor. Vor drei Monaten haben die Girondisten ihm den Prozeß gemacht, weil er Mord und Diktatur proklamiert und die Grundsätze der Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
- verrät. Aber das eingeschüchterte Gericht hat Marat freigesprochen, der Pöbel hat ihn mit Lorbeer gekrönt und unter dem Jubel der Menge durch die Straßen von Paris getragen. Man hat ihn zum Präsidenten des Jakobiner-Clubs gemacht. Jetzt sitzt er zu Hause und denunziert die Girondisten, die ihn angegriffen haben. Die meisten sind verhaftet, der Rest ist in die Provinz geflohen. Marat herrscht von seiner Badewanne aus über die Nation, und seine Waffe ist der Terror. Es scheint wahr zu sein, was man über unsere Revolution sagt: Feuer, das zerstört, kann nichts Neues aufbauen.“
„Aber es kann von einem noch größeren Feuer erfaßt werden“, sagte Mireille. „Und dieses Feuer ist das Montglane-Schachspiel. Wenn die Figuren wieder zusammen sind, werden sie auch Marat verschlingen. Ich bin nach Paris zurückgekehrt, um diese Kraft zu entfesseln. Und ich erwarte, daß du mir dabei hilfst.“
„Aber du hörst ja nicht, was ich dir sage!“ rief David. „Rache und Verrat haben unser Land entzweit. Wo soll das enden? Wenn wir an Gott glauben, dann müssen wir an die göttliche Gerechtigkeit glauben, die dafür sorgen wird, daß die Vernunft siegt.“
„Ich habe keine Zeit“, sagte Mireille, „ich kann nicht auf Gott warten.“
11. JULI 1793
Eine andere Nonne, die ebenfalls nicht warten konnte, war auf dem Weg nach Paris.
Charlotte Corday rollte mit der Postkutsche um zehn Uhr morgens in Paris ein. Sie stieg in einem kleinen Hotel ab und ging sofort zum Konventsgebäude.
Botschafter Genet hatte den Brief der Äbtissin aus Rußland geschmuggelt und in Caen übergeben. Er war lange unterwegs gewesen, aber in seiner Aussage klar und deutlich. Die im vergangenen September mit Schwester Claude nach Paris geschickten Schachfiguren waren verschwunden, und außer Claude war auch die junge Valentine während des Terrors umgekommen. Valentines Cousine war aus Paris verschwunden, und niemand wußte wohin. Charlotte nahm sofort Kontakt zu den Girondisten auf, ehemaligen Abgeordneten des Konvents, die sich in Caen vor Marats Wut versteckten. Charlotte Corday hoffte, diese Männer würden wissen, wer im Gefängnis L'Abbaye gewesen war, den Ort, wo Mireille zuletzt gesehen wurde, bevor sie spurlos verschwand.
Die Girondisten wußten nichts von einem rothaarigen Mädchen, aber ihr Führer, der gutaussehende Barbaroux, hatte Verständnis für die ehemalige Nonne, die ihre Freundin suchte. Er stellte ihr einen Paß aus mit der ausdrücklichen Genehmigung für ein Gespräch mit dem Abgeordneten Lauze Duperret, den sie in einem Vorzimmer des Konvents traf.
„Ich komme aus Caen“, begann Charlotte, als der Abgeordnete ihr gegenüber an dem polierten Tisch Platz nahm. „Ich suche eine Freundin, die während der Unruhen im vergangenen September im Gefängnis verschwunden ist. Sie war wie ich eine ehemalige Nonne, deren Kloster geschlossen wurde.“
„Charles-Jean-Marie Barbaroux erweist mir keinen großen Dienst, indem er Sie hierherschickte“, erklärte der Abgeordnete zynisch und hob eine Augenbraue. „Er wird von der Polizei gesucht - haben Sie das nicht gewußt? Will er mich auch verhaftet sehen? Ich habe genug eigene Schwierigkeiten. Das können Sie ihm bei Ihrer - hoffentlich baldigen -Rückkehr nach Caen mitteilen.“ Er
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