Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Namen angeben.“
Bei Sonnenuntergang fuhren Mireille und Charlotte in einer Mietdroschke in die Allée . Der Wagen hielt vor Marats Haus. Die schrägen Sonnenstrahlen fielen auf die Fensterscheiben und übergossen sie mit blutigem Rot.
„Ich muß wissen, welchen Grund du in deinem Brief für das Gespräch genannt hast“, sagte Mireille zu Charlotte.
„Ich habe geschrieben, daß ich aus Caen komme“, erwiderte Charlotte, „um ihm von den Machenschaften der Girondisten zu berichten. Ich deutete an, daß ich die Pläne für eine Verschwörung gegen die Regierung kenne.“
„Gib mir deinen Paß und deinen Ausweis“, sagte Mireille und streckte die Hand aus. „Vielleicht fragt man danach, ehe man mich in das Haus läßt.“
„Ich werde für dich beten“, flüsterte Charlotte und gab ihr die Papiere. Mireille schob sie in ihr Mieder, wo auch das Messer steckte. „Ich warte hier, bis du wieder herauskommst.“
Mireille überquerte die Straße und ging die Stufen des verwahrlosten Hauses hinauf. Vor der Tür blieb sie stehen und betrachtete die schmierige Visitenkarte, die an das Holz genagelt war. Darauf stand: JEAN-PAUL MARAT, ARZT.
Sie hohe tief Luft und schlug mit dem Türklopfer gegen die Tür. Die metallischen Schläge hallten von den nackten Wänden im Haus wider. Es dauerte eine Weile, dann näherten sich schlurfende Schritte, und die Tür wurde aufgerissen.
Vor ihr stand eine große Frau mit einem knochigen und bleichen, von Falten durchfurchten Gesicht. Mit einer Hand schob sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann wischte sie die mehligen Hände an einem Handtuch ab, das an ihrer Hüfte im Schürzenband steckte. Sie musterte Mireille von oben bis unten. Sie betrachtete mißbilligend das gerüschte und gepunktete Kleid, die Bänder am Hut und die weichen Locken, die Mireille über die Schultern fielen.
„Was wollen Sie?“ fragte sie abweisend.
„Ich heiße Corday. Bürger Marat erwartet mich“, sagte Mireille.
„Er ist krank“, erwiderte die Frau und wollte ihr die Tür vor der Nase zuschlagen, aber Mireille stemmte sich dagegen und drückte sie wieder auf.
„Ich muß ihn sprechen!“
„Wer ist es, Simonne?“ rief eine andere Frau, die am Ende des langen Gangs auftauchte.
„Eine Besucherin, Albertine - für deinen Bruder. Ich habe ihr gesagt, daß er krank ist...“
„Bürger Marat möchte mich sehen“, rief Mireille, „er möchte die Nachrichten hören, die ich ihm aus Caen und aus - Montglane bringe.“
Durch eine halboffene Tür im Gang hörte sie plötzlich eine Männerstimme.
„Eine Besucherin, Simonne? Bring sie sofort zu mir!“
Simonne zuckte die Schultern und bedeutete Mireille, ihr zu folgen.
Sie führte Mireille in einen großen mit Fliesen ausgelegten Raum. Es hatte nur ein hohes Fenster, durch das sie ein Stück verblassenden roten Himmel sah. Er roch stark nach Desinfektionsmitteln und nach Verwesung. In der einen Ecke stand eine Kupferwanne. Darin saß Marat im schwachen Licht einer Kerze und beugte sich über eine Schreibunterlage. Um den Kopf hatte er ein nasses Tuch gewickelt. Die eiternde Haut glänzte im Licht der Kerze bläulich weiß.
Mireilles Augen hefteten sich auf diesen Mann. Er hatte nicht den Kopf gehoben, als Simonne sie eintreten ließ, sondern ihr nur mit einer Geste bedeutet, auf dem Hocker neben der Wanne Platz zu nehmen. Er schrieb weiter, während Mireille ihn anstarrte. Ihr Herz klopfte wie rasend. Sie wollte sich auf ihn stürzen, ihm den Kopf in das Wasser drucken, bis er... Aber Simonne blieb dicht hinter ihr stehen.
„Sie kommen zum richtigen Zeitpunkt“, sagte Marat und schrieb weiter. „Ich arbeite gerade an einer Liste von Girondisten, von denen ich glaube, daß sie die Provinzen aufwiegeln. Wenn Sie aus Caen kommen, können Sie mir sicher einige der Namen bestätigen. Aber Sie sagen, Sie haben auch Nachrichten von Montglane...“
Er sah Mireille an, und seine Augen weiteten sich. Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er zu Simonne:
„Laß uns allein.“
Simonne rührte sich nicht, aber schließlich konnte sie Marats bohrendem Blick nicht länger standhalten, drehte sich wortlos um und ging hinaus.
Mireille erwiderte schweigend Marats Blick. Seltsam, dachte sie. Er ist die Ausgeburt des Bösen, der Mann, dessen abstoßendes Gesicht mich schon so lange in meinen Träumen verfolgt und quält. Er sitzt in einer Wanne mit stinkendem Wasser und verwest bei lebendigem Leib. Er ist ein alter Mann, der an der eigenen Bosheit stirbt. Sie
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