Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
stand auf und wandte sich zur Tür.
„Bitte“, flehte Charlotte und streckte die Hand aus, „meine Freundin befand sich in L'Abbaye, als das Blutbad begann. Man hat ihre Leiche nicht gefunden. Wir haben Gründe zu der Annahme, daß sie geflohen ist, aber niemand weiß wohin. Sie müssen mir sagen, welcher Abgeordnete den Vorsitz bei diesen Prozessen führte.“
Duperret blieb stehen und lächelte. Es war kein angenehmes Lächeln. „Niemand ist aus dem Abbaye geflohen“, erklärte er knapp. "Ein paar Leute wurden freigesprochen - es waren so wenige, daß ich sie an meinen beiden Händen zählen kann. Wenn Sie schon so töricht waren, hierherzukommen, sind Sie vielleicht auch verrückt genug, den Mann zu befragen, der für den Terror verantwortlich ist. Aber ich empfehle es Ihnen nicht. Er heißt Marat.“
12. JULI 1793
Mireille trug ein rot-weiß gepunktetes Kleid und einen Strohhut mit bunten Bändern. Sie stieg aus Davids Kutsche und befahl dem Kutscher zu warten. Dann eilte sie auf den riesigen, bevölkerten Markt von Les Halles, einen der ältesten der Stadt.
In den zwei Tagen seit ihrer Ankunft in Paris hatte sie genug erfahren, um zu wissen, daß sie sofort handeln und nicht erst auf Anweisungen der Äbtissin warten mußte. Ihr Onkel hatte ihr nicht nur erzählt, daß fünf Nonnen - natürlich mit den Schachfiguren - spurlos verschwunden waren, sondern daß auch andere von dem Montglane-Schachspiel wußten und sich dafür interessierten. Es waren zu viele: Robespierre, Marat und André Philidor, Schachmeister und Komponist, dessen Oper sie mit Madame de Staël gesehen hatte. Philidor war laut David nach England geflohen. Er hatte ihrem Onkel von einer Begegnung mit dem großen Mathematiker Leonhard Euler und einem Komponisten namens Bach erzählt. Bach hatte Eulers Formel der Springer-Tour in Musik verwandelt. Diese Männer glaubten, das Geheimnis des Montglane-Schachspiels stehe in Zusammenhang mit Musik. Wie viele andere waren inzwischen dem Geheimnis ebenso dicht auf der Spur?
Mireille eilte an den offenen Marktständen vorbei, an den farbenfrohen Auslagen mit Gemüse, Obst, Fisch und Delikatessen, die sich nur die Reichen leisten konnten. Ihr Herz klopfte, und ihre Gedanken überschlugen sich. Sie mußte handeln, bevor ihre Feinde von ihrer Anwesenheit erfuhren. Sie glichen alle den Bauern auf einem Schachbrett, die in die Mitte eines Spiels getrieben wurden, das so unerbittlich war wie das Schicksal selbst. Die Äbtissin hatte recht, wenn sie sagte, daß es jetzt darauf ankam, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen. Und dafür war sie, Mireille, nun verantwortlich. Denn sie wußte inzwischen mehr über das Montglane-Schachspiel als die Äbtissin — mehr als alle anderen.
Philidors Geschichte bestätigte, was Talleyrand und Letizia Buonaparte ihr erzählt hatten: Das Schachspiel enthielt eine geheime Formel. Darüber hatte die Äbtissin nie gesprochen, aber Mireille wußte es jetzt. Sie sah immer noch die Weiße Göttin mit dem Stab und der Acht in der erhobenen Hand vor sich.
Mireille stieg in das Labyrinth hinab, in die ehemaligen römischen Katakomben. Jetzt befand sich hier der unterirdische Markt mit Ständen für Kupferwaren, Bänder, Gewürze und Seide aus dem Fernen Osten. Sie kam an einem kleinen Cafe vorbei, dessen Tische in dem schmalen Gang standen. Dort saßen Metzger in ihren blutigen Schürzen. Die Männer aßen Kohlsuppe und spielten Domino. Mireilles Augen wurden beim Anblick des Bluts auf den nackten Armen starr. Sie schloß die Augen und eilte weiter.
Am Ende des zweiten Gangs war ein Stand mit Messern. Sie betrachtete die Auslagen und prüfte Schärfe und Stärke der Klingen, ehe sie das richtige fand - ein Küchenmesser. Es hatte eine etwa sechs Zentimeter lange Schneide und glich dem busaadi, mit dem sie in der Wüste gelernt hatte umzugehen. Sie bat den Händler, das Messer so zu schärfen, daß man schließlich ein Haar damit spalten konnte.
Jetzt blieb nur noch eine Frage: Wie kam sie in das Haus? Mireille sah nachdenklich zu, wie der Mann das Messer in braunes Papier wickelte. Sie zahlte zwei Franc, nahm das Päckchen unter den Arm und lief zum Ausgang zurück.
13. JULI 1793
Am Nachmittag wurde ihre Frage beantwortet. Mireille saß mit ihrem Onkel in dem kleinen Eßzimmer neben dem Atelier. Sie stritten sich. Als Abgeordneter konnte er ihr Zugang zum Haus von Marat verschaffen. Aber er weigerte sich - er hatte Angst. Pierre, der Diener, unterbrach das erregte
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