Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
liegt mitten im dunklen Meer, ein sonniges, reiches Land umgeben von Wasser...’.“ Eine Insel wie all die anderen im Mittelmeer, die von den Phöniziern besiedelt wurden. Die minoische Kultur war, wie die phönizische, eine labyrinthische Kultur, umgeben von Wasser, und man verehrte den Mond. Ich betrachtete die Gestalten auf der Wand.
„Warum war eine Doppelaxt in das Schachbrett graviert?“ fragte ich Lily, aber ich wußte die Antwort bereits. Obwohl ich darauf vorbereitet war, überlief mich bei ihren Worten derselbe kalte Schauer wie bei dem Anblick der weißen Gestalt hoch über mir auf der Felswand.
„Die Doppelaxt diente einzig und allein dazu“, sagte Lily ruhig, „den König zu töten!“
Mit der heiligen Axt tötete man den König. Dieses Ritual hatte sich vom Anbeginn der Zeit nicht gewandelt. Das Schachspiel war seine symbolische Inszenierung. Weshalb hatte ich das bis jetzt noch nicht begriffen?
Kamel hatte mir empfohlen, den Koran zu lesen, und Scharrif hatte mir bei meiner Ankunft in Algier die Bedeutung meines Geburtstags im islamischen Kalender erklärt. Wie die meisten alten Kalender basierte er auf den Mondzyklen. Aber ich hatte bis jetzt den Zusammenhang nicht begriffen.
Dieses Ritual des Königsmords gab es in allen Zivilisationen, deren Überleben vom Meer, von der Mondgöttin abhing, der Herrin über die Gezeiten, die das Wasser in den Flüssen steigen und sinken ließ. Diese Göttin forderte ein Blutopfer. Ihr wurde ein Mann als König vermählt, aber die Dauer seiner Herrschaft war genau festgesetzt. Er herrschte ein „Großes Jahr“, das heißt acht Jahre - in diesem Zeitraum treffen sich der Mond- und Sonnenkalender, denn hundert Mondzyklen entsprechen acht Sonnenjahren. Am Ende dieser Zeit wurde der König geopfert, um die Göttin gnädig zu stimmen. Und bei Neumond wählte man den neuen König.
Dieses Ritual von Tod und Wiedergeburt beging man immer im Frühjahr, wenn die Sonne genau zwischen Aries und Taurus steht - nach moderner Zeitrechnung also am vierten. April. Und an diesem Tag opferte man den König!
Es war das Ritual der Göttin Kar, deren Name in alter Zeit von Karkemisch bis Carcassone, von Karthago bis Khartum verehrt wurde.
Worte, die ihrem Namen entsprangen, kamen mir in den Sinn, während ich ihre Gestalt auf der Felswand betrachtete. Warum hatte ich nie zuvor darauf geachtet? Die Göttin verbarg sich in Worten wie Karmin, Kardinal, Karwoche, Karneol und - Karma, der endlose Zyklus von Inkarnation, Transformation und Vergessen. Sie war das Wort, das Fleisch wurde, die Schwingung des Schicksals, die als kundalini , die Schlangenkraft, im Lebenskern zusammengerollt schläft - als Kraft der Spirale, die das Universum formt. Ihre Kraft wurde durch das Montglane-Schachspiel entfesselt.
Ich sah Lily an, und die Taschenlampe in meiner Hand zitterte. Wir fielen uns in die Arme, suchten Wärme im kalten Mondlicht, das uns wie eiskaltes Wasser umgab.
„Sieh dir die Frau auf der Wand noch einmal an“, flüsterte ich und wies auf die Felswand. „Sie steht in einem Mondwagen inmitten von unzähligen Antilopen. Sie achtet nicht auf die Tiere - sie wendet den Kopf ab, und ihr Speer weist zum Himmel. Aber sie blickt nicht in den Himmel ...“
„Sie blickt in den Felsen hinein!“ rief Lily. „Das Versteck liegt im Felsen!“ Ihre Freude war etwas gedämpft, als sie mich wieder ansah. „Aber was sollen wir tun? Sollen wir den Felsen sprengen? Ich habe leider mein Dynamit zu Hause gelassen.“
„Sei vernünftig und denk nach“, sagte ich, „wir stehen im Steinwald. Wieso, glaubst du, haben diese bizarren Felsen das Aussehen von Bäumen? Sand trägt den Stein nicht auf diese Weise ab, gleichgültig welche Stürme hier wehen mögen. Sand poliert den Stein und macht ihn glatt. Nur Wasser kann aus Fels solche Formen schaffen. Die ganze Landschaft ist das Werk unterirdischer Flüsse oder Meere. Wasser höhlt Gestein aus... Weißt du, was ich meine?“
„Ein Labyrinth!“ rief Lily. „Du meinst, in der Felswand befindet sich ein Labyrinth! Deshalb zeichneten sie die Mondgöttin als eine labrys ! Es ist ein Hinweis wie ein Straßenschild. Aber der Speer weist nach oben. Das heißt, das Wasser muß von oben gekommen sein, und das Labyrinth ist von dort oben entstanden.“
„Vielleicht“, sagte ich nachdenklich, „aber sieh dir die Wand an. Sie ist nach innen gewölbt wie eine Schale. So höhlt das Meer eine Klippe aus. So entstehen alle Meeresgrotten. Ich glaube, der
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