Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
langsam dem dunklen Meer und zauberte Regenbogen in die Gischt, wenn die Wellen gegen die Felsen klatschten. Hin und wieder tauchten Olivenhaine zwischen den Felsen auf.
Als ich den Blick von der vorbeigleitenden Landschaft wieder auf das Buch richtete, kehrte ich schlagartig in die seltsame Welt der geschriebenen Worte zurück. Merkwürdig, dachte ich, dieses Tagebuch ist für mich sogar realer als die sehr realen und drohenden Gefahren um mich herum. Die französische Nonne Mireille war inzwischen eine Gefährtin auf unserem abenteuerlichen Weg. Ihre Geschichte entfaltete sich vor uns - und in uns - wie eine geheimnisvolle dunkle Blüte.
Lily fuhr schweigend, während ich ihr laut den Text übersetzte. Ich hatte das Gefühl, meine eigene Geschichte zu hören, die jemand erzählte, der neben mir saß. Es war die Geschichte einer Frau mit einer Mission, die nur ich allein verstand. Das leise Flüstern, das ich hörte, schien meine eigene Stimme zu sein. Irgendwann im Verlauf der Abenteuer war Mireilles Mission auch meine Mission geworden.
Ich verließ das Gefängnis zitternd vor Angst. Unter den Farben fand ich einen Brief der Äbtissin und eine beachtliche Summe Geld zur Durchführung meiner Mission, die sie mir auf diese Weise zukommen ließ. Außerdem schrieb sie, daß mit dem Vermögen meiner verstorbenen Cousine bei einer britischen Bank ein Guthabenkonto für mich eingerichtet worden sei. Aber ich wollte nicht nach England. Zuerst hatte ich eine andere Aufgabe, die wichtiger war. Mein Kind war in der Wüste - der kleine Charlot! Und noch vor wenigen Stunden hatte ich geglaubt, ihn nie wiederzusehen. Er war unter den Augen der Weißen Göttin zur Welt gekommen. Er war in das Spiel hineingeboren...
Lily fuhr langsamer, und ich hob den Kopf. Es wurde bereits dunkel, und meine Augen brannten vom Lesen im schwindenden Licht. Es dauerte einen Augenblick, ehe ich begriff, weshalb sie plötzlich an den Straßenrand gefahren war und die Scheinwerfer ausschaltete. Weiter vorne sah ich Polizeiautos und Militärfahrzeuge - man hatte alle Fahrzeuge vor uns zu einer ausführlichen Kontrolle an die Seite gewinkt.
„Wo sind wir?“ fragte ich. „Hoffentlich haben sie uns noch nicht bemerkt.“
„Etwa acht Kilometer vor Sidi-Fredsch, also deiner Wohnung und meinem Hotel. Bis Algier sind es noch vierzig Kilometer. In einer halben Stunden könnten wir dort sein.“
„Wir können nicht weiterfahren. Egal, wie gut wir die Figuren verstecken, sie werden sie finden.“ Ich dachte einen Augenblick nach. „Direkt vor uns führt eine kleine Straße zu einem Hafen. Die Straße ist auf deiner Karte nicht eingezeichnet, aber ich kenne sie, weil ich dort Fisch und Langusten gekauft habe. Bieg ab, dann mußt du nicht wenden und die Polizisten mißtrauisch machen. Der Hafen heißt La Madrague. Wir können uns dort vorerst verkriechen.“
Lily fuhr im Schrittempo die steile und kurvenreiche unbefestigte Straße hinunter. Inzwischen war es völlig dunkel, aber der Ort hatte nur eine Straße, die an dem winzigen Hafen entlangführte. Wir hielten vor dem einzigen Gasthaus. Es war, wie ich wußte, eine Matrosenkneipe, aber es gab dort eine gute Bouillabaisse. Durch die geschlossenen Läden und durch die Tür fiel Licht auf die Straße. Alles sah schäbig und schmierig aus.
„Zieh kein Gesicht, Lily. Sie haben ein Telefon, und wir können etwas essen. Mir kommt es vor, als hätte ich seit Jahren nichts mehr gegessen. Ich werde versuchen, Kamel zu erreichen. Vielleicht kann er uns hier rausholen. Nun komm schon, ich glaube, wir sind im Zugzwang“, sagte ich lachend, um sie aufzumuntern.
„Und wenn du ihn nicht erreichst?“ erkundigte sie sich. „Was glaubst du, wie lange sie die Straßensperre dort oben wohl aufrechterhalten? Wir können hier nicht übernachten.“
„Naja, wenn wir den Wagen hier stehenlassen, können wir zu Fuß am Strand entlanggehen. Bis zu meiner Wohnung sind es nur ein paar Kilometer. Dann haben wir zwar die Straßensperre umgangen, sitzen aber ohne Fahrzeug in Sidi-Fredsch.“
Lily entschied sich für meinen ersten Vorschlag - den vielleicht schlechtesten, seit wir unterwegs waren.
Die Kneipe war ein Matrosentreffpunkt - gut, aber die Matrosen, die uns verblüfft anstarrten, als wir eintraten, glichen eher den Statisten aus einem Film wie „Die Schatzinsel“. Carioca saß auf Lilys Arm und schnaubte, als versuche er, den Verbrechergestank aus der Nase zu bekommen.
„Jetzt fällt es mir wieder ein“,
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