Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Tochter. Solltet Ihr diese Tradition fortsetzen, dann geratet Ihr in große Gefahr.“ Ich hörte dem alten Herrn höflich zu, aber ich fragte mich, ob die Sonne ihm vielleicht nicht nur das eine Auge geblendet hatte. „Es gibt einen Geheimbund von Männern, die es als ihre Lebensaufgabe betrachten, den Lauf der Zivilisation zu ändern.“, begann Euler seine eigentliche Geschichte. Wir saßen in seinem Arbeitszimmer inmitten von Teleskopen, Mikroskopen und staubigen Büchern, die neben dicken Bündeln von Schriften und Abhandlungen aller Art verstreut auf den vielen Mahagonitischen lagen. „Diese Männer“, fuhr er fort, „behaupten, Wissenschaftler zu sein. Aber in Wirklichkeit sind es Esoteriker. Ich will Euch berichten, was ich über sie weiß, denn das kann einmal von großer Bedeutung für Euch werden. Im Jahre 1271 zog Prinz Eduard von England, der Sohn Heinrichs III., ins Heilige Land, um in den Kreuzzügen zu kämpfen. Er landete in Akkon, einer uralten Stadt in der Nähe von Jerusalem. Wir wissen wenig darüber, was er dort tat. Er kämpfte in mehreren Schlachten und
traf sich mit den Anführern der moslemischen Mauren. Im folgenden Jahr wurde Eduard nach England zurückgerufen, denn sein Vater war gestorben. Nach seiner Rückkehr wurde er König Eduard I., und wir kennen aus den Büchern den Rest der Geschichte. Aber es ist nicht bekannt, daß er etwas nach England mitgebracht hatte.“
„Und was war das?“ wollte ich wissen. „Er war in ein großes Geheimnis eingeweiht worden, ein Geheimnis, das bis zum Beginn der Zivilisation zurückreicht“, erwiderte Euler. „Aber ich greife meiner Geschichte vor. Nach seiner Rückkehr gründete Eduard einen Bund von Männern, mit denen er vermutlich sein Geheimnis teilte. Wir wissen wenig über sie, aber wir können ihr Tun bis zu einem gewissen Maß verfolgen. So ist uns bekannt, daß sich der Bund nach Unterwerfung der Schotten bis nach Schottland ausbreitete. Als die Jakobiten zu Beginn unseres Jahrhunderts aus Schottland flohen, brachten sie den Bund und seine Lehren mit nach Frankreich. Montesquieu, der große französische Staatsphilosoph und Schriftsteller, war während eines Aufenthalts in England in den Orden aufgenommen worden, und mit seiner Hilfe wurde 1734 in Paris die Loge der Wissenschaften gegründet. Vier Jahre später wurde unser Friedrich der Große in Braunschweig in den Geheimbund aufgenommen. Im selben Jahr erließ Papst Clemens XII. eine Bulle zur Unterdrückung des Ordens, der sich inzwischen in Italien, Preußen, Österreich, in den Niederlanden und auch in Frankreich ausgebreitet hatte. Aber der Geheimbund war bereits so stark, daß das Parlament des katholischen Frankreich sich weigerte, dem Befehl des Papstes zu gehorchen.“
„Warum erzählen Sie mir das alles?“ fragte ich Euler. „Selbst wenn ich die Absichten dieser Männer verstehen würde, was hat das alles mit mir zu tun? Und was könnte ich dagegen tun? Ich bin noch ein Kind.“
„Nach allem, was ich über die Ziele dieser Männer weiß“, erwiderte Euler leise, „kann ich sagen, wenn sie nicht vernichtet werden, dann werden sie vielleicht die Welt vernichten. Heute seid Ihr noch ein Kind, aber bald werdet Ihr die Gemahlin des nächsten Zaren von Rußland sein, des ersten männlichen Herrschers seit zwei Jahrzehnten. Hört mir genau zu und prägt es Euch gut ein.“ Er nahm mich beim Arm. „Manchmal nennen sich diese Männer Freimaurer, manchmal Rosenkreuzer. Welchen Namen sie auch wählen, eines haben sie gemeinsam: Ihr Ursprung liegt in Nordafrika. Als Prinz Eduard diesen Geheimbund in der westlichen Welt gründete, nannten sie sich ‚Orden der Architekten Afrikas’. Sie halten sich für die Nachkommen der Bauherren der alten Kulturen, die die ägyptischen Pyramiden errichteten, die Hängenden Gärten der Semiramis, die Tore und den Turm von Babel. Sie kannten die Geheimnisse der Alten. Aber ich glaube, sie waren die Architekten von etwas anderem. Etwas, das aus neuerer Zeit stammt und vielleicht mächtiger ist als alles...“
Euler machte eine Pause und sah mich mit einem Blick an, den ich nie vergessen werde. Er verfolgt mich nach beinahe fünfzig Jahren immer noch, als sei es gerade eben gewesen. Ich sehe Euler mit erschreckender Deutlichkeit in meinen Träumen, und ich fühle seinen Atem an meinem Hals wie damals, als er sich vorbeugte und flüsterte: „Ich glaube, sie waren auch die Schöpfer des
Weitere Kostenlose Bücher