Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
waren zwar in das geheime Wissen eingeweiht, und sie fürchteten es, aber trotzdem schrieben sie die Formel in das Montglane-Schachspiel. Sie versahen die Felder des Schachbretts und die Schachfiguren mit den heiligen Symbolen. Den Schlüssel behielten sie, so daß nur wahre Meister des Spiels die Macht freisetzen können.
Dies habe ich dem Studium der alten Schriften entnommen, die ich in Chalon, Soissons und Tours entdeckt und übersetzt habe. Möge Gott sich unserer Seelen erbarmen. Ecce Signum,
Armand-Jean du Plessis,
Herzog von Richelieu & Vikar von Lucon, Poitou & Paris, Kardinal von Rom
Ministerpräsident von Frankreich Anno Domini 1642
„Aus seinen Memoiren“, sagte Katharina zu der schweigenden Äbtissin, als sie zu Ende gelesen hatte, „erfahren wir, daß der ‘Eiserne Kardinal’ bald danach beabsichtigte, das Kloster von Montglane zu besuchen. Aber wie du weißt, starb er im Dezember dieses Jahres, nachdem er den Aufstand im Roussillon niedergeschlagen hatte. Können wir auch nur einen Augenblick lang daran zweifeln, daß er von der Existenz der Geheimbünde wußte und daß er das Montglane-Schachspiel in seinen Besitz bringen wollte, ehe es in andere Hände fiel? All sein Tun zielte auf Macht. Warum sollte er sich im Alter geändert haben?“
„Mein liebes Figchen“, sagte die Äbtissin mit einem schwachen Lächeln, das nichts von dem inneren Sturm verriet, den diese Worte bei ihr ausgelöst hatten, „das ist ein gutes Argument. Aber all diese Männer sind tot. Zu ihren Lebzeiten haben sie vielleicht das Schachspiel gesucht, aber sie haben es nicht gefunden. Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß du die Geister toter Männer fürchtest?“
„Geister können wieder auferstehen!“ erklärte Katharina mit Nachdruck. „Vor fünfzehn Jahren haben die britischen Kolonien in Amerika das Joch des Empire abgeworfen. Welche Männer haben das bewirkt? Männer wie Washington, Jefferson, Franklin - alles Freimaurer! Zur Zeit liegt der König von Frankreich im Gefängnis. Die Krone wird er vermutlich ebenso verlieren wie seinen Kopf. Welche Männer haben das bewirkt? Lafayette, Condorcet, Danton, Desmoulins, Brissot, Sieyès und die Brüder des Königs, einschließlich des Herzogs von Orleans - alles Freimaurer!“
„Ein Zufall -“, wollte die Äbtissin widersprechen, aber Katharina ließ sie nicht zu Worte kommen.
„War es ein Zufall, daß von den Männern, die ich dafür gewinnen wollte, das Enteignungsgesetz in Frankreich zu verabschieden, kein anderer als Mirabeau auf meine Bedingungen einging - und er ist ein Freimaurer! Natürlich konnte er nicht wissen, daß ich ihm den Schatz abnehmen wollte, als er mein Bestechungsgeld annahm.“
„Der Bischof von Autun hat es abgelehnt“, sagte die Äbtissin lächelnd und sah ihre Freundin über die dicken Lederbände hinweg an. „Welchen Grund nannte er?“
„Er verlangte eine unerhörte Summe von mir!“ erwiderte die Zarin wütend und erhob sich. „Dieser Mann wußte mehr, als er bereit war zu sagen. Du weißt sicher, daß sie diesen Talleyrand in der Nationalversammlung ‘die Angorakatze“ nennen! Er schnurrt, aber er hat Krallen. Ich traue ihm nicht.“
„Du vertraust einem Mann, den du bestechen kannst, aber du mißtraust dem, bei dem es dir nicht gelingt?“ fragte die Äbtissin und zog den Umhang enger um sich. Sie stand auf und sah ihre Freundin auf der anderen Seite des Tisches lange und traurig an, dann drehte sie sich um, als wolle sie gehen.
„Wohin willst du?“ rief die Zarin erschrocken. „Verstehst du nicht, weshalb ich das alles unternommen habe? Ich biete dir meinen Schutz an. Ich herrsche allein über das größte Land der Erde. Ich lege meine Macht in deine Hände...“
„Sophie“, sagte die Äbtissin ruhig, „ich danke dir für dein Angebot, aber ich fürchte diese Männer weniger als du. Ich bin bereit zu glauben, daß sie Esoteriker, vielleicht sogar Revolutionäre sind, wie du behauptest. Ist dir nie der Gedanke gekommen, daß diese Geheimbünde, mit denen du dich so ausführlich beschäftigt hast, ein Ziel im Auge haben könnten, das du nicht bedacht hast?“
„Was meinst du?“ fragte die Zarin. „Ihre Handlungen zeigen deutlich, daß sie die Monarchien stürzen wollen. Welch anderes Ziel sollten sie haben, als über die ganze Welt zu herrschen?“
„Vielleicht wollen sie die Welt befreien.“ Die Äbtissin lächelte. „Im Augenblick liegen mir nicht genug Informationen vor, um zu entscheiden, ob sie das
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