Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
das Arbeitszimmer der Äbtissin gerufen wurden, saß die alte Frau hinter dem großen Schreibtisch und forderte sie auf, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Auf der Platte stand das schimmernde und glänzende Montglane-Schachspiel.
Die Äbtissin legte die Schreibfeder zur Seite und hob den Kopf. Mireille und Valentine hatten sich an den Händen gefaßt und warteten in ängstlicher Spannung.
„Ehrwürdige Mutter“, stieß Valentine plötzlich hervor, „ich möchte Euch sagen, daß ich Euch sehr vermissen werde, jetzt, da ich gehen muß. Und ich erkenne, daß ich für Euch eine schwere Last gewesen bin. Ich wünsche, ich hätte eine bessere Nonne sein können und Euch weniger Ärger verursacht...“
„Valentine“, sagte die Äbtissin und lächelte, als Mireille ihre Freundin in die Seite stieß, um sie zum Schweigen zu bringen. „Was möchtest du mir in Wirklichkeit sagen? Hast du Angst, daß du von deiner Cousine Mireille getrennt werden sollst? Hat das die späte Reue geweckt?“ Valentine sah die Äbtissin sprachlos vor Staunen an, denn diese Frau schien ihre Gedanken lesen zu können.
„Mach dir keine Sorgen“, fuhr die Äbtissin fort und reichte Mireille ein Blatt Papier über den Schreibtisch. „Hier steht der Name und die Adresse des Mannes, der für euch verantwortlich sein wird. Und darunter habe ich genaue Anweisungen für die Reise geschrieben, die ihr beide zusammen antreten werdet.“
„Beide!“ rief Valentine und wäre am liebsten aufgesprungen. „Oh, Ehrwürdige Mutter, Ihr habt meinen größten Wunsch erfüllt!“
Die Äbtissin lachte. „Ich bin sicher, Valentine, wenn ich euch nicht zusammenlassen würde, hättest du sehr schnell einen Weg gefunden, alle meine sorgsam ausgearbeiteten Pläne zunichte zu machen, nur damit du bei deiner Cousine bleiben könntest. Außerdem habe ich gute Gründe, euch zusammen auf die Reise zu schicken. Hört mir gut zu. Für jede Nonne im Kloster ist Vorsorge getroffen worden. Alle, die zu ihren Familien zurückkehren können, werden das tun. In einigen Fällen habe ich Freunde oder entfernte Verwandte gefunden, die ihnen Obdach bieten. Wenn sie mit einer Mitgift in das Kloster gekommen sind, erhalten sie das Geld wieder zurück. Sind keine finanziellen Mittel vorhanden, dann schicke ich die betreffende Nonne in ein vertrauenswürdiges Kloster in einem anderen Land. In jedem Fall stehen Mittel für die Reise und den Lebensunterhalt meiner Töchter zur Verfügung.“ Die Äbtissin faltete die Hände und sprach weiter: „Aber du hast in vielerlei Hinsicht Glück, Valentine. Dein Großvater hat dir ein großzügiges Erbe hinterlassen, das ich für dich und deine Cousine Mireille bestimmt habe. Darüber hinaus hast du zwar keine Familienangehörigen mehr, aber einen Patenonkel, der sich bereit erklärt hat, für euch beide die Verantwortung zu übernehmen. Ich habe sein schriftliches Einverständnis. Das führt mich zu meinem zweiten Punkt, und er ist von ganz besonders großer Bedeutung.“
Mireille sah Valentine bei der Erwähnung eines Patenonkels verblüfft an. Jetzt überflog sie das Blatt Papier in ihrer Hand, auf dem die Äbtissin in großen Druckbuchstaben geschrieben hatte: M. JACQUES-LOUIS DAVID, MALER. Darunter stand eine Adresse in Paris. Mireille hatte nichts von Valentines Patenonkel gewußt.
„Ich bin mir im klaren darüber“, fuhr die Äbtissin fort, „wenn bekannt wird, daß ich das Kloster geschlossen habe, werden einige Personen in Frankreich darüber höchst verärgert sein. Viele von uns werden in Gefahr geraten, besonders durch die Leute des Bischofs von Autun, der natürlich herausfinden möchte, was wir hier ausgegraben und mitgenommen haben. Versteht ihr, die Spuren unseres Tuns lassen sich nicht völlig verwischen. Möglicherweise wird man einige Nonnen aufspüren und zur Rede stellen. Vielleicht werden sie dann fliehen müssen. Deshalb habe ich acht von uns ausgewählt, von denen jede einen Teil des Schachspiels aufbewahren, und wenn eine ihrer Schwestern fliehen muß, bereit sein wird, Figuren zu übernehmen beziehungsweise Nachrichten darüber, wo man die Betreffende finden kann. Valentine, du gehörst zu den acht.“
„Ich!“ rief Valentine und schluckte heftig, denn ihr wurde plötzlich die Kehle trocken. „Aber Ehrwürdige Mutter, ich bin nicht... ich habe doch nicht...“
„Du möchtest sagen, du bist nicht gerade ein Muster an Verantwortung.“ Die Äbtissin mußte gegen ihren Willen lächeln. „Das ist mir bewußt, und ich
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