Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
verlasse mich darauf, daß deine vernünftige Cousine mir bei diesem Problem helfen wird.“ Sie sah Mireille fragend an, und diese nickte zustimmend.
„Ich habe meine Wahl der acht Schwestern nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Fähigkeiten getroffen“, erklärte die Äbtissin, „sondern nach den strategisch günstigen Orten, an denen sie sich befinden werden. Dein Patenonkel lebt in Paris, im Mittelpunkt des Schachbretts, das Frankreich darstellt. Als berühmter Künstler genießt er die Freundschaft und die Achtung des Adels. Aber er ist auch Mitglied der Nationalversammlung, und manche Leute halten ihn für einen leidenschaftlichen Anhänger der Revolution. Ich glaube, er ist in der Lage, euch beide zu beschützen, wenn es notwendig sein sollte. Außerdem habe ich ihm eine hohe Summe gezahlt, um ihn in dieser Hinsicht entsprechend zu motivieren.“
Die Äbtissin sah die beiden jungen Frauen über den Tisch hinweg an. „Es handelt sich hier nicht um eine Bitte, Valentine“, sagte sie streng. „Deine Schwestern können in Schwierigkeiten geraten, und du wirst dann in der Lage sein, ihnen zu helfen. Ich habe denen, die bereits in ihre Heimat aufgebrochen sind, deinen Namen und deine Adresse gegeben.
„Du wirst nach Paris reisen und tun, was ich dir sage. Mit fünfzehn Jahren bist du alt genug, um zu wissen, daß es im Leben Dinge gibt, die wichtiger sind als die Erfüllung dieser persönlichen Wünsche.“ Die Worte der Äbtissin klangen hart, aber als sie Valentine ansah, wurde ihr Gesicht wie immer weich. „Außerdem ist Paris als Verbannungsort nicht so schlecht“, fügte sie lächelnd hinzu.
Valentine erwiderte das Lächeln der Äbtissin. „Nein, Ehrwürdige Mutter“, sagte sie und nickte eifrig mit dem Kopf, „da gibt es die Oper und dann vermutlich Feste, und man erzählt, die Damen tragen wunderschöne Kleider...“ Mireille stieß Valentine wieder in die Rippen. „Ich meine, ich danke der Ehrwürdigen Mutter in aller Ergebenheit dafür, daß sie ihrer bescheidenen Dienerin soviel Vertrauen entgegenbringt.“ Die Äbtissin mußte darüber so herzlich lachen, daß man ihr Alter in diesem Augenblick hätte vergessen können.
„Schon gut, Valentine. Ihr könnt jetzt beide gehen und eure Sachen packen. Ihr reist morgen bei Sonnenaufgang ab. Trödelt nicht herum.“ Als die Äbtissin sich erhob, nahm sie zwei schwere Figuren vom Schachbrett und reichte sie den beiden Novizinnen.
Valentine und Mireille küßten der Äbtissin den Ring. Beim Gehen drehte sich Mireille noch einmal um und sagte zum ersten Mal etwas, seit sie den Raum betreten hatten.
„Darf ich der Ehrwürdigen Mutter vielleicht eine Frage stellen?“ sagte sie leise. „Wo werdet Ihr hingehen? Wir mochten an Euch denken und Euch unsere guten Wünsche schicken, wo Ihr auch sein mögt.“
„Ich begebe mich auf eine Reise, die ich schon über vierzig Jahre machen möchte“, erwiderte die Äbtissin. „Ich habe eine Freundin, die ich seit der Kindheit nicht mehr besucht habe. Damals - weißt du, Valentine erinnert mich manchmal sehr an diese Jugendfreundin. Sie war so temperamentvoll, so überschäumend vor Leben...“ Die Äbtissin schwieg, und Mireille dachte: Sie sieht wehmütig aus - wenn man so etwas von einer so würdigen Persönlichkeit überhaupt sagen konnte.
„Lebt Eure Freundin in Frankreich, Ehrwürdige Mutter?“ fragte sie.
„Nein“, erwiderte die Äbtissin, „sie lebt in Rußland.“
Im ersten grauen Licht des Tages verließen zwei junge Frauen in Reisekleidung das Kloster von Montglane. Sie stiegen auf einen mit Heu beladenen Wagen. Der Wagen fuhr durch das schwere Klostertor und rollte auf das hügelige Vorgebirge zu. Während sie in das Tal hinunterfuhren, stieg Nebel auf und verbarg sie den Blicken. Die Frauen schauderten und zogen ihre Umhänge fest um sich. Dankbar dachten sie daran, daß sie sich auf einer Gottesmission befanden, wenn sie jetzt in die Welt zurückkehrten, vor der sie so lange beschützt gewesen waren. Aber nicht Gott beobachtete sie stumm vom Gipfel des Berges, als der Wagen langsam in das dunkle Tal hinunterrollte. Hoch oben auf dem schneebedeckten Gipfel über dem Kloster saß ein einsamer Reiter auf einem hellen Pferd. Er verfolgte den Wagen mit seinen Blicken, bis er im Nebel verschwunden war. Dann wendete er sein Pferd und ritt davon.
NEW YORK Dezember 1972
Es begann an Silvester, an dem denkwürdigen letzten Tag des Jahres 1972. Ich hatte eine Verabredung mit einer Wahrsagerin.
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