Katrin mit der großen Klappe
bestätigt,
daß die meisten von euch vom Beruf des eigenen Vaters keine rechte Vorstellung
haben, aber ihr wart schlau genug, in solchen Fällen Berufe eines Großvaters,
Urgroßvaters oder Onkels herauszufinden, von denen ihr mehr wißt. Damit bin ich
recht zufrieden.“
Frau Dr. Mohrmann nahm eines
der Hefte auf, blätterte darin. „Silvy Heinze hat einen besonderen Einfall
gehabt. Sie hat ihren Klavierlehrer als Modell genommen. Dein Aufsatz hat mir
gut gefallen, Silvy... hoffentlich übst du auch fleißig und verplauderst nicht
die halbe Zeit mit deinem Klavierlehrer, wie es nach diesem Aufsatz den
Eindruck macht.“
Die Klasse lachte.
Silvy sprang auf, lief nach
vorne und nahm ihren Aufsatz entgegen. „Bestimmt nicht“, sagte sie. „Aber ich
habe ja schon seit einem Jahr Unterricht, und in der langen Zeit habe ich eine
Menge Beobachtungen machen können.“
„Ruth Kleibers Aufsatz hat mich
ein bißchen enttäuscht“, erklärte Frau Dr. Mohrmann. „Eigentlich hatte ich
angenommen, du würdest ganz genau über den Beruf deines Vaters Bescheid wissen.
Aber alles, was du schreibst oder, besser gesagt, wie du es schreibst, Ruth,
klingt ein bißchen verschwommen.“
„Mein Vater hat es nicht gerne,
wenn ich im Geschäft bin“, verteidigte sich Ruth. „Er sagt immer: ,Wer nicht
helfen will, hat hier nichts zu suchen. Neugierige sind ganz unnütz auf der
Welt‘.“
„Da hat dein Vater sicher
recht“, sagte Frau Dr. Mohrmann und reichte Ruth ihr Heft. „Schlecht ist dein
Aufsatz nicht, ich konnte dir ein gutes Befriedigend geben.“
„In Wirklichkeit“, rief Silvy,
ohne aufgerufen worden zu sein, „ist die Sache ganz anders! Ruth geht nicht
gern in das Geschäft, weil sie sich vor den Kunden fürchtet!“
Ruth rief in das allgemeine
Gelächter hinein: „Das ist einfach nicht wahr!“
„Ruhe!“ Frau Dr. Mohrmann
setzte ihr strengstes Gesicht auf. „Deine Bemerkung war ungehörig, Silvy. Es
ist nicht schön, seine Mitmenschen herabzusetzen.“
Silvy zuckte die Achseln. „Ruth
kann eben keinen Spaß verstehen“, murmelte sie.
Frau Dr. Mohrmann hatte es doch
gehört. „Ich auch nicht“, sagte sie scharf, „jedenfalls keine Späße, die auf
Kosten anderer gehen.“ Ruth und Silvy setzten sich wieder.
Frau Dr. Mohrmann ergriff das
nächste Heft. „Besonders gut hat mir Leonores Aufsatz gefallen. Komm nach
vorne, Leonore, sei so nett und lies uns etwas daraus vor!“
Leonore Müller ließ sich das
nicht zweimal sagen. Ihre runden braunen Augen strahlten nur so, als sie das
Heft entgegennahm. Sie stellte sich vor den Lehrertisch und begann mit lauter
klarer Stimme zu lesen: „Mein Vater ist Rechtsanwalt. Das habe ich schon
gewußt, als ich noch ganz klein war. Aber was ein Rechtsanwalt nun wirklich zu
tun hat, das wußte ich nicht. Mein Vater spricht zu Hause nicht über seinen
Beruf. — ,Wenn ich über diese Schwelle trete’, sagt er oft, sobald er nach
Hause kommt, ‚will ich allen Ärger hinter mir lassen. Dann bin ich nur noch für
meine Familie da.‘„
Leonore machte eine kleine
Pause und räusperte sich. „Darüber freuen sich Mutti und wir Kinder. Aber
einmal bin ich mitten in der Nacht erwacht, weil ich schlecht geträumt hatte,
und ich bin ins Wohnzimmer gerannt. Da hat Vati an seinem Schreibtisch gesessen
und gearbeitet. Mit einem Mal habe ich wieder etwas Neues von Vaters Beruf
gewußt: daß er oft noch arbeitet, wenn wir anderen längst schlafen.
Aber natürlich, für einen
richtigen Aufsatz mußte ich noch mehr in Erfahrung bringen. Deshalb bin ich
gestern in die Kanzlei meines Vaters gegangen — Kanzlei, so nennt man das Büro
eines Rechtsanwaltes. Fräulein Schmidt ist die Kanzleivorsteherin, und sie habe
ich nach allem gefragt, was ich wissen wollte.
Mein Vater arbeitet
hauptsächlich als Strafverteidiger. Wenn jemand in den Verdacht kommt, die
Gesetze übertreten zu haben, wird er vom Staatsanwalt angeklagt und vor Gericht
gestellt. Dann nimmt er sich einen Rechtsanwalt, der ihn verteidigt. Der
Rechtsanwalt, mein Vater, versucht nun entweder die Unschuld seines Mandanten —
so nennt ein Rechtsanwalt seine Kunden — zu beweisen, oder er bemüht sich
darum, daß sein Mandant so milde wie möglich bestraft wird. Oft kommt es auch
vor...“
Leonore las und las, und die
Mädchen lauschten mit gespitzten Ohren. Allen tat es leid, als sie endete. So
schnell war ihnen die Zeit während des Unterrichts selten vergangen.
„Sehr schön, Leonore“, sagte
Frau Dr.
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