Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
Dann waren sie am Ufer entlanggespurtet , um ihre unsichere Fahrt so lange wie möglich zu verfolgen. Sie veranstalteten Wettrennen. Wessen Boot sich am längsten über Wasser hielt, der hatte gewonnen. Meistens kenterten die Papierkähne allerdings schon nach wenigen Metern oder sie verfingen sich im dichten Ufergestrüpp.
Eine Bewegung zu seiner Rechten riss Halverstett aus seinen Gedanken. Er blickte zur Seite. Fritz Schier stand neben ihm und verfolgte die Polizeiarbeit mit aufmerksamen Augen. Er war heute Morgen auf dem Polizeipräsidium erschienen. Er hatte beobachtet, wie jemand am Montag spät abends etwas von der Südbrücke in den Fluss geworfen hatte. In dem Augenblick hatte er sich nicht viel dabei gedacht. Er war mehr damit beschäftigt gewesen, seinen Rauhaardackel Rudi zurückzurufen, der aufgeregt in der Uferböschung herumscharrte. Erst als eine Nachbarin ihm später erzählte, dass am selben Abend ein Mädchen auf dem Südfriedhof zu Tode gekommen war, war ihm die Sache wieder eingefallen.
Halverstett betrachtete den Mann aufmerksam. Seine Kleidung war einfach und abgetragen, aber ordentlich gepflegt und sauber. Fritz Schier hatte erzählt, dass er schon sein Leben lang in Flehe wohnte. Jetzt war er achtundsiebzig und versorgte sich immer noch ganz allein. Nur einmal in der Woche kam eine Putzfrau und die Nachbarin brachte ihm gelegentlich ein paar Dinge aus dem Supermarkt mit.
Schier war die Art von Zeuge, die Halverstett am liebsten hatte. Als er auf dem Präsidium seine Aussage machte, war er sofort zur Sache gekommen und hatte ohne viele Umschweife erzählt, was er am Montagabend beobachtet hatte. Er war mit seinem Hund unterwegs gewesen. Er ging oft spät abends noch spazieren, da er sowieso nicht schlafen konnte. Er war den Deich entlang gelaufen, fast bis nach Hamm. Auf dem Rückweg hatte er gesehen, dass ein Auto mitten auf der Südbrücke angehalten hatte. Es stand am Fahrbahnrand und die Warnblinkanlage war eingeschaltet. Fritz Schier hatte sich gefragt, was für ein Pechvogel wohl so spät abends noch eine Panne hatte. Dann hatte er gesehen, wie jemand etwas über das Brückengeländer in den Rhein schleuderte. Er hielt das Bündel für eine helle Plastiktüte, aber er hatte es im Dunklen nicht genau erkennen können. In dem Moment hatte Rudi aufgeregt gehechelt und leise gebellt und er hatte sich abgewandt. Als er eine Weile später noch einmal hochsah, waren das Auto und der Mann verschwunden. Halverstett räusperte sich.
„Ist Ihnen noch etwas eingefallen? Die Farbe des Wagens oder vielleicht irgendwas Besonderes an der Kleidung, die der Mann trug?“
Schier schüttelte den Kopf. „Der Wagen war dunkel. Irgendwie. Aber ich bin mir nicht sicher. Der Mann sah ganz normal aus. Ich weiß wirklich nicht.“
Die Taucher suchten vierzig Minuten lang das Flussbett unter der Südbrücke ab. Mittlerweile hatte sich eine kleine Schar neugieriger Passanten versammelt. Obwohl es immer noch leicht nieselte, verharrten sie geduldig und starrten erwartungsvoll auf das Wasser. In verhaltenem Tonfall tauschten sie Vermutungen aus. Gab es eine zweite Leiche? Hatte sich der Friedhofsmörder von der Brücke gestürzt? Oder suchten sie vielleicht die Tatwaffe im Rhein?
Halverstett war gerade im Begriff, die Aktion abzublasen, als einer der Männer auftauchte und eine große, weiße Tüte hochhielt. Der Beamte im Schlauchboot nahm sie entgegen. Der Kommissar eilte die Wiese hinunter. Im Lauf streifte er sich Gummihandschuhe über. Als die zwei Taucher und der dritte Polizeibeamte endlich mit dem kleinen Boot an das Ufer stießen, griff Halverstett nach der Tüte und versuchte, sie zu öffnen. Die oberen Enden waren verknotet und es dauerte eine Weile, bis er das feuchte Plastik aufgeknüpft hatte. Er blickte hinein. Im Inneren befanden sich ein paar Kleidungsstücke, eine Hose und ein Hemd, soweit er erkennen konnte, und jede Menge Kieselsteine. Die Kleidung war fleckig. Bräunliche Spritzer bildeten ein hässliches, unregelmäßiges Muster. Möglicherweise war es Blut. Er fuhr mit den Fingern in die Tüte und tastete. Aber er konnte nichts weiter finden. Ein steinerner Engel war nicht dabei.
Es gab nur eine Videothek auf der Dorotheenstraße . Katrin stieg aus der Bahn und begutachtete kritisch den Himmel. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, aber die Luft legte sich schwer und feucht um ihren Körper. Sie fröstelte. Dann überquerte sie hastig die Fahrbahn.
Der Laden sah unscheinbar und
Weitere Kostenlose Bücher