Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
Desaster.“
„Desaster?“
Timm strich sich erneut über die Haare. Seine Bewegungen wirkten fahrig. Dann vergrub er die Hände in den Hosentaschen und starrte auf den Boden.
„Was meinst du mit Desaster?“
„Eigentlich mochte ich sie ganz gern, verstehen Sie? Sie war anders als die anderen Mädchen. Ernsthafter, klüger. Sie war was Besonderes. Wenn sie nur nicht immer wieder …“
Timm drehte das Gesicht zur Wand. Sein Körper verkrampfte sich. Katrin merkte anhand der Geräusche, die von der Bühne zu ihnen drangen, dass die anderen Bandmitglieder mit dem Aufbau fertig waren und ungeduldig warteten. Sie vermied es, in ihre Richtung zu sehen und hoffte, Timm würde weiter sprechen, bevor sie zu unruhig wurden. Doch er schwieg und hielt seinen Kopf immer noch von ihr weggedreht. Trotzdem konnte sie sehen, dass seine Augen feucht schimmerten, als er schließlich fortfuhr:
„Wir sind nicht zu der Party gefahren, sondern hierhin. Im Anfang war es ganz okay, aber dann wurde es mir wieder zu wild und ich bin abgehauen.“
„Zu wild?“
„Sie wollte immer so komische Sachen. Dass ich sie schlage und so. Mit meinem Gürtel. Aber ich kann das nicht. Ich kann nicht einmal eine Fliege an der Wand kaputtschlagen.“
Er sprach abgehackt. Seine Stimme klang rau.
„Ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht will. Erst hat sie mich angefleht, dann hat sie rumgebrüllt und am Ende hat sie mich ausgelacht. Mich einen Schlappschwanz genannt. Andere wären nicht so zimperlich. Und wenn ich nicht wolle, dann wäre eben einer von denen am Zug. Ich hab das nicht ausgehalten. Ich bin hier raus und zu der Party gefahren. Danach hab ich sie nicht mehr gesehen. Auch nicht am Montag in der Schule.“
7
Der Anruf hatte überhaupt nichts gebracht. Er spürte es. Sie würde nicht locker lassen. Sie war einer von diesen Menschen, die erst Ruhe gaben, wenn sie einer Sache auf den Grund gegangen waren. Warum war sie nur so interessiert am Tod eines Mädchens, das sie überhaupt nicht gekannt hatte, der sie nie in ihrem Leben begegnet war? Was hatte das Ganze mit ihr zu tun? Er kannte die Antwort. Er hatte das Grab gesehen. Aber er hätte das Grab nicht gebraucht, um es zu wissen.
Er starrte auf die Windschutzscheibe. Es goss in Strömen. Die Regentropfen prasselten unermüdlich gegen das Glas und beim Herunterlaufen hinterließen sie einen schmierigen Film, mischten sich mit dem Staub und der klebrigen Flüssigkeit, die von den blühenden Bäumen getropft war. Ohne Scheibenwischer konnte man kaum etwas sehen. Und wenn man ihn einschaltete, wurde es noch schlimmer.
Er war mit dem Wagen auf den Volmerswerther Deich gefahren. Rechts neben ihm befand sich das weiträumige, trostlose Gelände des Klärwerks und die Südbrücke lag lauernd wie ein dunkler, drohender Schatten vor seinen Augen. Hier hatte er die Tüte runtergeschleudert. Kaum zu glauben, dass das erst vor fünf Tagen gewesen war. Die Zeit war ihm unendlich lange vorgekommen. Sie war gekrochen, hatte sich zäh vorwärts bewegt wie eine schwere, träge Masse. Er stakste unbeholfen durch diesen dickflüssigen Brei aus Stunden und Minuten und schlug sich durch den Alltag, versuchte ein Leben zu führen, das für alle anderen völlig normal aussah, sodass ihm niemand anmerkte, dass er mit jeder Körperbewegung gegen dieses erstickende Etwas ankämpfte, das drohte, langsam über ihm zusammenzuschlagen.
Er versuchte seine Gedanken auf konkrete Probleme zu lenken. Er musste sich um Katrin kümmern. Was sollte er tun? Wieder anrufen? Zu riskant. Was, wenn sie diesmal seine Stimme erkannte? Außerdem würde sie das nicht davon abhalten, weiter zu schnüffeln. Sie wusste bereits zu viel. Sie war wie ein wildes Tier, eine Raubkatze, die eine Fährte gewittert hatte. Jetzt würde sie erst Ruhe geben, wenn sie alles herausgefunden hatte. Oder wenn sie …
Er stöhnte tonlos. Er wollte das nicht tun. Er wollte nicht schon wieder Gewalt anwenden. Er hasste Gewalt. Er hasste es, wenn dieses Gefühl in ihm aufstieg, wenn es anfing, in seinen Armen und Beinen zu kochen, dieses Pulsieren in seinen Schläfen, dieses Tosen in seinem Schädel. Er hasste es, die Kontrolle zu verlieren, es nicht mehr unterdrücken zu können.
Und dann kam der Moment, wo er gar nicht mehr dagegen ankämpfen wollte, wo er es plötzlich in vollen Zügen genoss. Wenn dieser Rausch, diese Ekstase, von ihm Besitz ergriff, erkannte er sich selbst nicht wieder. Dann bestand er nur noch aus Zorn.
Nachher fühlte er
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