Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
verbrachte den Rest des Vormittags auf dem Balkon. Den Zettel legte sie allerdings rasch weg. So sehr sie auch versuchte, die Informationen über Tamaras Tod sinnvoll anzuordnen, es ergab sich kein einheitliches Bild, das alle Details logisch zusammenfügte. Also holte sie sich ihr Buch aus dem Wohnzimmer, in dem sie schon seit Tagen keine Zeile mehr gelesen hatte. Über der Lektüre vergaß sie völlig die Zeit. Es war zwanzig nach zwei, als sie den Roman zuschlug und benommen in ihre eigene Welt zurückkehrte.
Gegen drei Uhr stieg sie in ihren Wagen und fuhr nach Eller . Die warme Maisonne hatte die feuchte Stelle auf ihrem Sitz fast getrocknet. Das Ehepaar Arnold erwartete sie mit Kaffee und Kuchen. Sie fühlte sich unangenehm berührt und hatte beinahe ein schlechtes Gewissen. Sie wurde wie ein besonderer Gast behandelt, während sie eigentlich nur darauf aus war, an weitere Informationen zu kommen. Aber dann hielt sie sich vor Augen, dass sie ja schließlich versuchte, den Tod ihrer Tochter aufzuklären. Dieter Arnold war ausgesprochen freundlich. Er erkundigte sich nach Katrins beruflichem Fortkommen und wollte Einzelheiten aus dem Alltag einer Fotografin erfahren. Katrin hatte das Gefühl, dass er es beinahe genoss, über etwas völlig Banales zu sprechen und seine Gedanken Dingen zuzuwenden, die nichts mit Tamaras Tod zu tun hatten. Sylvia Arnolds Gesicht wirkte blass und aufgequollen. Katrin spürte, dass sie sich Mühe gab, an dem Gespräch teilzunehmen, aber dass es bereits ihre ganze Konzentration erforderte, einfach nur gerade auf dem Sofa zu sitzen.
Etwa eine halbe Stunde nach Katrins Ankunft, entschuldigte sie sich und zog sich ins Schlafzimmer zurück. Dieter Arnold lächelte Katrin an.
„Es kommt Ihnen vielleicht nicht so vor, aber Ihr Besuch hat ihr gut getan.“
Katrin nickte stumm. Sie beobachtete durch das Fenster, wie der blaue Himmel vom Vormittag sich bereits wieder zuzog. Dann wandte sie sich entschlossen an Dieter Arnold.
„Darf ich Sie etwas fragen?“
„Ja natürlich.“ Er sah sie überrascht an.
„Ich habe noch einmal mit Timm gesprochen. Er hat mir etwas recht Merkwürdiges erzählt.“ Sie hielt inne. Dieter Arnold erwiderte stumm ihren Blick. Irgendetwas sagte ihr, dass er wusste, was kommen würde. Sie fuhr sehr langsam fort und versuchte, ihre Worte so behutsam wie möglich zu wählen.
„Er sagt, dass Tamara von ihm verlangt hat, dass er sie schlage.“
Sie schwieg erwartungsvoll, aber der Mann antwortete nicht. Er blickte konzentriert auf den Fußboden. Katrin fuhr fort: „Es sieht so aus, als wäre Tamara nicht gegen ihren Willen verprügelt worden, sondern als habe sie es selbst so gewollt, als sei das Ganze Teil eines – brutalen Spiels gewesen. Haben Sie davon etwas gewusst?“
Dieter Arnold starrte immer noch auf den Boden, aber Katrin konnte sehen, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er nickte mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung seines Kopfes.
Katrin hakte nach. „Wissen Sie auch, mit wem sie sich für diese Dinge getroffen hat? Timm war es nämlich nicht. Er hat sich geweigert, Gewalt anzuwenden.“
„Ich weiß gar nichts.“
Er sprach kaum hörbar. Katrin musste sich vorbeugen, um seine Stimme zu verstehen.
„Ich hatte so einen Verdacht, aber ich wusste nichts Genaues.“
„Glauben Sie, dass die Schnittverletzungen auch daher sind?“
Er schüttelte den Kopf.
„Die hat sie sich selbst zugefügt.“
Er räusperte sich umständlich, bevor er mit gepresster Stimme fortfuhr.
„Vor ein paar Wochen habe ich sie in ihrem Zimmer überrascht. Sie saß auf ihrem Bett und hielt ein Messer in der Hand. Eins von diesen Dingern, die auf Knopfdruck aufspringen. Ihr Oberarm blutete und ich wollte ihr helfen. Ich dachte, sie hätte sich aus Versehen verletzt. Aber sie lachte nur. Sie sagte, es sei schön, den Schmerz zu spüren und das warme Blut zu fühlen oder irgend so was in der Art. Ich war völlig außer mir. Ich fragte sie, ob ihre Mutter etwas davon wisse. Dann beschwor ich sie, diesen Unsinn zu lassen, aber sie fing einfach an, in aller Seelenruhe ihre Wade von oben nach unten aufzuschlitzen. Das Blut lief auf die Bettdecke und mir wurde schwindelig. Ich bin aus dem Zimmer gerannt und musste mich übergeben.“
Er strich mit den Händen über seine Beine, so als spürte er dort den Schmerz, den seine Tochter sich zugefügt hatte.
„Meinen Sie, dass Ihre Frau davon gewusst hat?“
„Nein. Das glaube ich nicht. Und ich will auf gar
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