Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
später wiederkommen. Vielleicht um die Mittagszeit, wenn nicht so viele Menschen draußen herumliefen. Und wenn das Häuschen dann immer noch so unbewohnt aussah, würde er mal prüfen, was sich machen ließ. Meistens gab es irgendwo eine Schwachstelle. Und er war spezialisiert auf Schwachstellen. So ein Haus war auch viel besser als die Ecke in der Bahnhofsunterführung oder das Asyl. Meistens blieb er lieber allein, er hing ungern mit den anderen zusammen herum. Es gab nur zwei, die er mochte und mit denen er sich gelegentlich unterhielt. Den anderen ging er gewöhnlich aus dem Weg. Er warf einen letzten Blick auf das Anwesen. Hier würde er es sich über Weihnachten ein wenig gemütlich machen. Dann wandte er sich ab und schlenderte gemächlich zurück in die Innenstadt.
***
Obwohl ihre Tränen längst versiegt waren, blieb Dagmar noch lange auf dem Küchenboden liegen. Sie war wie versteinert. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, sickerte die Bedeutung dessen, was sie gerade erfahren hatte, in ihr Bewusstsein. Und die Ahnung, dass sie auf eine Katastrophe zustürmte, ohne die geringste Chance, ihr auszuweichen. Dennoch gewann ihr Überlebenswille die Oberhand. Sie stürzte zum Telefon und tippte hastig eine Nummer in die Tasten. Sie musste ihn erreichen. Was nutzte die Absprache, jeglichen Kontakt zu vermeiden, jetzt noch? Die Sache war sowieso bereits sinnlos geworden. Was für ein fataler Zufall.
Er nahm nicht ab. Vielleicht konnte er auf dem Display ihre Nummer sehen. Schließlich hatte sie es ihm eingebläut. Keinen Kontakt. Egal was passiert. Bloß keinen Kontakt. Sie stöhnte, überlegte kurz, und schickte ihm dann eine Nachricht.
Unruhig ging sie im Zimmer hin und her, während sie auf eine Antwort wartete, aber es kam keine. Schließlich wählte sie eine andere Nummer. Jeanette würde nicht gerade begeistert sein, aber sie brauchte sie jetzt.
»Ich bin’s, Dagmar. Ich habe ein Problem. Es ist wirklich ernst. Kannst du vorbeikommen?« Sie lauschte den aufgebrachten Worten am anderen Ende der Leitung. »Ja, ja, ich weiß«, antwortete sie dann. »Mir ist schon klar, dass du viel um die Ohren hast. Aber es ist verdammt wichtig. Ich glaube, ich habe eine Riesendummheit gemacht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Bitte!«
Kurz darauf legte sie erleichtert auf. Jeanette würde wissen, was zu tun sei. Jeanette hatte immer für alles eine Lösung. Sie war zwar die jüngere Schwester, aber sie war immer viel besser mit ihrem Leben klar gekommen. Es war verrückt. Dabei war Jeanette eigentlich die Träumerin und Dagmar die Realistin. Allerdings hatte Jeanette es geschafft, ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen.
Dagmar erinnerte sich, wie sie mit ihrer kleinen Schwester darüber gesprochen hatte, was sie später einmal werden wollten. Es war während eines Urlaubs an der Nordsee gewesen. Dagmar war elf und Jeanette war gerade fünf geworden. Sie hatten Krebse und Muscheln gesammelt und ein großes Loch im Watt ausgehoben, wo sie die Tiere aussetzen und beobachten konnten. Danach saßen sie im Sand und starrten in das trübe Wasser. Dagmar wollte unbedingt die Welt verbessern, selbst damals schon, und mit elf lautete ihr Berufswunsch Ärztin. Dann könnte sie nach Afrika gehen und all den armen, hungrigen Kindern helfen. Jeanettes Pläne für die Zukunft waren weniger sozial gewesen:
»Ich werde Prinzessin«, hatte sie ohne zu zögern erklärt. Dagmar hatte sie ausgelacht: »Das ist doch kein Beruf!«
Aber sie hatte sich geirrt. Jeanette hatte es geschafft. Sie war tatsächlich eine Prinzessin geworden. In gewisser Weise jedenfalls.
Dagmar nahm noch einmal das Telefon und tippte seine Nummer in die Tasten. Auch diesmal hob er nicht ab.
5
Roberta lief die Autoreihen entlang. Vermutlich war das nicht besonders sinnvoll, was sie da machten, aber es tat gut, überhaupt etwas zu tun. Manfred und sie waren von Katrins Wohnung aus ins Parkhaus unter der Kunstsammlung in der Altstadt gefahren, um nachzusehen, ob Katrins Wagen vielleicht noch hier stand. Roberta war sich nicht sicher, wo er abgestellt gewesen war, sie erinnerte sich nur, dass Katrin in einer anderen Etage als sie selbst geparkt hatte. Also suchten sie gemeinsam jedes Parkdeck ab. Es ging schnell, da sie das Dach von Katrins rotem Golf Cabrio sofort erkannt hätten, wenn das Auto noch in dem Parkhaus gestanden hätte. So viele Cabrios fuhren im Winter nicht herum, außerdem war ihr Verdeck an einer Stelle über dem Fahrersitz ziemlich auffällig
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