Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
Kopf. Seine Reaktion machte ihrAngst. Sie kannte ihn als jemanden, der jede Sache energisch anpackte, der eher zu viel Temperament hatte, als zu wenig. Dass ausgerechnet er jetzt so die Schultern hängen ließ, versetzte ihr einen Stich. Er machte sich offenbar wirklich ernsthafte Sorgen.
Auf den Stufen vor dem Präsidium kam ihnen ein Mann entgegen, den sie kannten. Er hatte graumeliertes Haar, einen leichten Bauchansatz und ein entschlossenes, doch warmherziges Gesicht. Es war Kriminalhauptkommissar Halverstett. Er schien es sehr eilig zu haben, doch als er die beiden erkannte, blieb er stehen und sah sie fragend an.
»Ist etwas passiert?«
»Katrin ist weg.«
Der Polizist blickte erstaunt von Roberta zu Manfred. »Was heißt weg?«
»Verschwunden halt«, erklärte Manfred. »Weder zu Hause, noch irgendwo anders, ihr Auto ist weg, aber sie hat kein Gepäck mitgenommen, und um ihren Kater hat sie sich auch nicht gekümmert.«
Die Männer, in deren Begleitung Halverstett gekommen war, warteten ungeduldig im Eingang. Er signalisierte ihnen mit einer Handbewegung, dass er gleich kommen werde. Dann sah er wieder zu Manfred und Roberta. »Seit wann ist sie weg?«
»Gestern Abend.«
»Das ist ja noch nicht lange. Haben Sie alles versucht? Auch die Krankenhäuser?«
Roberta nickte. Einer der Männer blickte demonstrativ auf seine Uhr.
»Ich muss los«, erklärte Halverstett. »Eine dringende Sache. Aber ich werde den Kollegen vom KK 12 Dampf machen. Bitte machen Sie sich keine Sorgen. Sicherlich klärt sich alles bald auf. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Er hastete die Treppe hoch.
Roberta starrte ihm nach. »Es ist verrückt. Im Grunde ist man immer nur mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Die Probleme der anderen lassen einen kalt. Man trifft sich, tauscht sich kurz aus, und dann schwebt jeder wieder fort in sein eigenes kleines Universum.«
Manfred warf ihr einen Blick zu.
»Schon okay. Mir geht es gut.« Roberta grinste. »Fiel mir nur gerade so auf. Für Halverstett gibt es im Augenblick nichts Wichtigeres als diese dringende Angelegenheit, die er da zu erledigen hat. Für die Frau da drüben – «, sie deutete auf eine ältere Dame, die gerade mit einem Pudel im Arm aus dem Hotel trat, das sich auf der anderen Straßenseite befand, »gibt es vermutlich im Augenblick nichts Wichtigeres, als dass ihr kleiner Liebling ein schönes Häufchen macht. Und wir zwei, wir interessieren uns nur für eine einzige Frage: Wo in aller Welt steckt Katrin?«
***
Katrin versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, was passiert war, aber das Letzte, was ihr einfiel, war das kleine Café, in dem sie mit Roberta eine heiße Schokolade getrunken hatte. Was war danach passiert? Hatten sie ihre Einkäufe beendet? War sie nach Hause gefahren? Hatte ihr jemand in der Wohnung aufgelauert und sie überfallen? Sie kramte verzweifelt in ihrer Erinnerung, aber es war, als hätte jemand mit einem großen Radiergummi in ihrem Hirn für eine zweifelhafte Ordnung gesorgt. Da war nichts außer einem riesigen schwarzen Loch.
Jetzt merkte sie, dass sie zitterte. Es war verdammt kalt in dem kleinen Raum. Sie sah sich um. Die Liege war nicht mehr als ein an der Wand befestigtes Brett mit einer dünnen Schaumstoffmatratze. Auf dem Boden lag eine Decke. Wer auch immer sie hier gefangen hielt, hatte sie offensichtlich wenigstens zugedeckt, bevor er sie hier für die Nacht allein gelassen hatte. Für die Nacht? Wie lange war sie wohl schon hier? Tatsächlich nur eine Nacht? Oder waren es vielleicht schon mehrere Tage? War es überhaupt Tag? Sie blickte sich erneut um und entdeckte eine Art Gitter in der Ecke neben dem leeren Regal, durch das ein wenig gräuliches Licht hereindrang. Es wirkte wie Morgen- oder Abenddämmerung, aber je nachdem, wie das Wetter draußen war, konnte es auch mitten am Tag sein.
Katrin sah wieder hinunter zu der Decke am Boden. Wie konnte sie sie erreichen? Wie auf die Liege bekommen? Ein Geräusch unterbrach ihre Gedanken. Es klang wie das behutsame Öffnen einer Tür. Angstvoll lauschte sie. Bisher hatte sie noch gar nicht darüber nachgedacht, warum sie eigentlich hier festgehalten wurde. Jetzt schossen ihr mit einem Mal tausend verschiedene Szenarien durch den Kopf. Wollte jemand Lösegeld erpressen? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Ihre Eltern waren zwar wohlhabend, trotzdem war sie wohl kaum das typische Entführungsopfer. Vielleicht handelte es sich um eine Verwechslung. Was würden ihre
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