Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
Schreck über den Mord saß tief. Die meisten hatten gestern nach der Befragung nur noch nach Hause gewollt. Halverstett hatte auf die Schnelle nicht alle Gesichter genau gesehen, aber es schien ihm, dass Maiwald heute Nachmittag nicht dabei war. War er eigentlich gestern auch befragt worden? Er nahm sich vor, in den Protokollen nachzusehen.
Rasch lief er durch das Foyer.
Ein Kollege trat ihm aus dem Paternoster entgegen. Halverstett selbst benutzte eigentlich lieber die Treppe. »Hey, Klaus, wir haben da vielleicht was. Ist zwar gar nicht deine Angelegenheit, aber ich weiß, dass dich die Sache interessiert.«
Der Kommissar blieb stehen und sah den anderen gespannt an.
»Vermutlich ist es gar nichts. Wir sollten uns natürlich nicht zu große Hoffnungen machen, aber nachgehen müssen wir der Sache auf jeden Fall.«
»Was denn?«, fragte Halverstett, den die lange Vorrede bereits ein wenig ungeduldig gemacht hatte. Er kannte den Kollegen seit Jahren und wusste, dass er dazu neigte, die unbedeutendsten Details umständlich zu verpacken. »Aber bitte die Kurzfassung«, fügte er deshalb hinzu. »Ich habe einen Termin.«
Der Mann sah ihn ein wenig pikiert an, doch dann sprach er weiter.
»Die Meldung kam aus Mettmann. Ein Penner hat was auf der Straße gefunden. Ausgerechnet.«
Halverstett war bei dem Wort Penner zusammengezuckt, aber er sagte nichts.
Der andere fuhr fort. »Es ist wahrscheinlich nur ein Zufall, und von den Dingern gibt es bestimmt Zehntausende, aber im Labor untersuchen müssen wir sie natürlich. Vielleicht haben wir ja Glück, und es ist doch ein Volltreffer. Wo uns das allerdings hinführt, ist nach wie vor fraglich. Wir müssen auch die Freundin benachrichtigen, die kann sie vielleicht identifizieren.«
»Wer kann was identifizieren?« Halverstett verlor allmählich die Geduld. Was machte man mit so einem Polizisten, wenn es einmal wirklich auf Sekunden ankam?
»Na, also, wie ich schon sagte, dieser Penner spazierte durch die Innenstadt von Mettmann, und irgendwo, ich weiß jetzt gar nicht genau wo, da hat er sie dann gefunden.«
Halverstett tat, als würde er einen Schritt auf den Paternoster zumachen.
»Geringelte Handschuhe«, verkündete der Mann triumphierend.
Der Kommissar begriff nicht sofort.
»Geringelte Handschuhe, genau solche wie die, die Katrin Sandmann trug, als sie verschwand.«
Halverstett stöhnte. Dann dankte er dem Kollegen für die Information und huschte in den Paternoster, bevor dieser weiter ins Detail gehen konnte. In der zweiten Etage trat er zurück ins Treppenhaus. Ein Paar geringelte Handschuhe, die jemand in der Innenstadt von Mettmann aufgelesen hatte. Wenn die irgendwas mit Katrin Sandmanns Verschwinden zu tun hatten, dann würde er nächstes Jahr Polizeipräsident werden.
***
Manfred parkte in der Nähe der Bushaltestelle ›Zeisigweg‹ und stieg aus dem Wagen. Suchend blickte er sich um. Hier im Düsseldorfer Norden, wo die Straßen nach Schlehen und Wacholder benannt waren, kannte er sich nicht sonderlich gut aus. Er zuckte zusammen, als eine riesige Boeing scheinbar aus dem Nichts am Himmel auftauchte und hinter den Häusern zu seiner Rechten verschwand. Er glaubte fast, er hätte das Flugzeug berühren können, wenn er nur seine Hand ausgestreckt hätte. Der Flughafen lag nur wenige hundert Meter entfernt. Was für ein merkwürdiges Gefühl musste es sein, hier zu leben, im Sommer gemütlich im Garten zu sitzen, ein Buch auf dem Schoß, während diese monströsen Ungeheuer der Neuzeit mit ohrenbetäubendem Gedröhn über einen hinwegglitten.
Er starrte noch gedankenverloren in die Richtung, in der sich der Flughafen befinden musste, als ein Lieferwagen mit überhöhter Geschwindigkeit an ihmvorbeibretterte. Der braune Schneematsch spritzte hoch und klatschte gegen seine Hose. Manfred fluchte und schickte dem Fahrer ein paar wüste Beschimpfungen hinterher. Dann setzte er sich in Bewegung.
Hier war Brindi also nach seinem letzten Ausbruch aufgegriffen worden. Nach dem Anruf bei Frau Dr. Nasser in Süchteln hatte er sich im Internet die Pressemitteilung der Polizei vom dreizehnten Oktober angesehen und außerdem einen Artikel des Morgenkuriers, der ebenfalls im Netz stand. »Es kommt immer mal wieder vor, dass Patienten aus der Klinik fliehen«, so berichtete die Zeitung. »Die meisten sind aber schnell wieder zurück.« So im Oktober auch Brindi. Er war am späten Vormittag geflohen, und nachmittags sammelte ihn eine Polizei-
streife ein.
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