Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
warum. Sie hat es immer gut gemeint, aber meist alles nur noch schlimmer gemacht.«
Das Handy klingelte wieder, und Jeanette versetzte der Handtasche einen Fußtritt, sodass sie quer durchs Wohnzimmer flog und an der Wand abprallte. Das Telefon verstummte. Rupert, den Roberta noch einmal aus dem Korb geholt hatte, miaute laut und sprang entsetzt zur Seite. Dann verzog er sich in die Küche.
Jeanette brach in Tränen aus. »Sie war meine große Schwester. Als ich noch klein war, habe ich sie bewundert, weil sie so viel wusste. Aber je älter ich wurde, desto mehr merkte ich, dass sie zwar viel wusste, aber eigentlich gar nichts begriff. Sie hatte ein total verzerrtes Bild von der Welt und das meiste, was sie angefangen hat, ist irgendwie schief gegangen. Vielleicht lag es an dem Heim. Wir sind Halbschwestern. Meine Eltern haben sie aus dem Heim geholt, als sie sechs war. Ich glaube nicht, dass sie in den ersten Jahren ihres Lebens besonders glücklich war. Vielleicht hat es damit etwas zu tun.« Jeanette tastete in ihrer Jacke nach einem Taschentuch, fand aber keins. Manfred nahm ein Päckchen vom Tisch und reichte es ihr.
Es dauerte einen Moment, bis Jeanette sich soweit gefasst hatte, dass sie weiter sprechen konnte. »Sie müssen verstehen, es bleibt alles an mir hängen, die Wohnung, die Beerdigung, alles. Ich musste sie identifizieren. Als ich gestern zu ihrer Wohnung kam, war die Polizei da. Sie haben mich gleich rüber gebracht zur Uni, und da lag sie. Sie sah so klein und hilflos aus.« Sie zog ein frisches Taschentuch aus dem Päckchen und fingerte damit herum. Rupert kam neugierig zurück ins Zimmer geschlichen und folgte jeder Bewegung des Taschentuchs mit aufgerissenen Augen. Sein Schwanz peitschte erregt hin und her.
Jeanette blickte aus dem Fenster, wo die großen, alten Platanen unter der Last der Schneemassen ächzten, während sie leise weitersprach. »Es ist so, wie ich gesagt habe. Dagmar hatte Angst, dass man ihr Brindis Ausbruch anhängt. Sie hatte wohl überall rumerzählt, dass sie ihn für unschuldig hält und dass sie ihm zu seinem Recht verhelfen will. Mehr wollte sie am Telefon nicht sagen. Sie wollte mir alles genau erzählen, wenn ich hier bin. Sonst weiß ich nichts. Wirklich.«
Manfred beäugte sie misstrauisch. Doch Roberta sah sie voller Mitgefühl an.
»Sie hat ihm also nicht dabei geholfen?«, fragte sie dann.
Jeanette schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ganz sicher nicht. Das weiß ich genau.«
»Was hat sie denn befürchtet, wenn sie mit Brindis Ausbruch nichts zu tun hatte? Wenn sie nicht ihre Finger im Spiel hatte, dann war sie doch aus dem Schneider.«Manfred musterte Jeanette aufmerksam.
»Sie war sich darüber im Klaren, dass es trotzdem jeder annehmen würde. Sie tun das doch auch.« Sie warf Manfred einen Blick zu, halb vorwurfsvoll, halb trotzig. Ihre Wimperntusche war verschmiert und die Tränen hatten schwarzgraue Spuren auf ihren Wangen hinterlassen, aber das tat ihrer Attraktivität keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Hilflosigkeit stand ihr gut, und sie wusste das offensichtlich auch.
Manfred schien jedoch unbeeindruckt. »Was genau hat sie am Telefon gesagt?«, hakte er nach.
»Hab ich doch schon gesagt: Ich stecke in der Scheiße. Brindi ist ausgebrochen. Das werden sie bestimmt mir anhängen, aber ich habe nichts damit zu tun. So was in der Art. Sie war ziemlich durch den Wind und hat keine langen Erklärungen abgeliefert.«
»Und das war wirklich alles?«
»Ja, verdammt.«
Jetzt fiel Roberta mit einem Mal etwas ein. »Was wollten Sie eigentlich hier?«, fragte sie. »Woher hatten Sie Katrin Adresse?«
»Von der Polizei«, erklärte Jeanette. »Sie haben mir eine Visitenkarte gezeigt und mir gesagt, dass sie in Dagmars Jacke war. Sie wollten wissen, ob ich wüsste, ob die beiden sich kannten und ich mir vorstellen könnte, was Dagmar von dieser Frau Sandmann gewollt haben kann. Aber ich hatte den Namen noch nie zuvor gehört.«Sie stopfte das Papiertaschentuch, das sie inzwischen vollkommen zerfusselt hatte, in ihre Tasche. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Nachdem ich meine Aussage auf dem Präsidium gemacht hatte, stand ich da auf der Straße und ich fühlte mich so allein. Ich wollte irgendwas tun. Also bin ich hierher gefahren.«
Zehn Minuten später waren Manfred und Roberta wieder allein in der Wohnung. Roberta stand am Fenster und beobachtete, wie Jeanette in ein Taxi stieg. Sie drehte sich zu Manfred um. »Was hältst du von
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