Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
Er saß an der Bushaltestelle auf der Bank und ließ sich ohne Gegenwehr mitnehmen. Ein anonymer Anrufer hatte die Polizei verständigt. Es hieß, dass es sogar Brindi selbst gewesen sei.
Manfred sah sich um. Die Viertel hatte nichts Auffälliges an sich. Ein paar Mietshäuser und in den Seitenstraßen Doppelhaushälften, schon ein wenig älter und nicht besonders luxuriös, eher gediegen bürgerlich. Was hatte Brindi hier gewollt? War er zufällig in dieser Gegend gelandet? Oder steckte doch ein Plan dahinter? Er hatte als Kind nicht weit weg gewohnt. Dennoch hätte er mit dem Bus drei Haltestellen weiterfahren müssen, um zu der Straße zu gelangen, in der er aufgewachsen war. Warum also war er ausgerechnet hier ausgestiegen?
Manfred bog in eine der Wohnstraßen ein. Ohne recht zu wissen, wonach er eigentlich suchte, ließ er seinen Blick hin und her schweifen. Eine Frau kam aus einer Haustür. Mit einem kleinen Dackel an der Leine spazierte sie den sorgsam vom Schnee befreiten Weg durch den Vorgarten auf das kleine Holztörchen zu, das ihr Grundstück vom Bürgersteig trennte. Sie schaute Manfred neugierig an. Dann fiel ihr Blick auf seine verschmutzte Hose, und sie verzog misstrauisch das Gesicht. Manfred spürte, wie sie ihm argwöhnisch hinterhersah, als er langsam weiterging.
Es scherte ihn nicht. Er hatte ganz andere Sorgen. Er war sich sicher, dass Brindi nicht zufällig hierher gefahren war, einfach nur, um in seiner alten Heimat ein wenig spazieren zu gehen. Dahinter steckte keine Sentimentalität. Nein. Der Mann hatte etwas im Schilde geführt. Was, wenn er hier einen Ort gesucht hatte, an dem er sein nächstes Opfer gefangen halten konnte? Womöglich hatte er von einem leerstehenden Haus in der Zeitung gelesen und die Gegend ausgekundschaftet. Da ihmUnterrath aus seiner Kindheit vertraut war, wäre es denkbar, dass es ihn für sein nächstes Verbrechen wieder hierher zog. Zumal er alles aus der Klinik heraus organisieren musste. Hier, wo er sich gut auskannte, würde er sich sicher fühlen.
Manfred beschleunigte seine Schritte und ging weiter die Straße entlang. Er kam an eine kleine Kreuzung. In alle Richtungen erstreckten sich Sträßchen mit denselben gleichförmigen Doppelhaushälften. Manche waren frisch renoviert und sahen richtig wohnlich aus, andere wirkten ein wenig heruntergekommen und schriennach einem Anstrich. Nach kurzem Zögern bog Manfred rechts ab.
Es dämmerte langsam und nach und nach gingen die Weihnachtslichterketten in den Fenstern und Vorgärten an. Er kam am Haus eines Dachdeckers vorbei. Zwei Häuser weiter befand sich eine Arztpraxis. ›Dr. Weidemann‹ stand auf dem weißen Schild, praktischer Arzt. Privat und alle Kassen. Das Haus war eins von denen, die noch nicht renoviert waren. Es wirkte sehr schlicht, aber ordentlich. Der Vorgarten war gepflegt, und in den zwei Fenstern der unteren Etage rechts von der Haustür stand je eins von diesen Lichtergestellen, die wie kleine Pyramiden aussahen. Manfred war schon drei Häuser weiter, als er mit einem Mal stehen blieb.
Dr. Weidemann. Er hatte diesen Namen schon einmal gehört. Aber wann? Und in welchem Zusammenhang? Er überlegte einen Moment, aber es wollte ihm nicht einfallen. Kurz entschlossen zog er sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.
»Ja, Gerd, ich bin’s, Manfred. Kannst du mir einen Gefallen tun?« Er hörte kurz zu, als der Mann am anderen Ende etwas fragte, dann antwortete er. »Nein, es gibt noch nichts Neues. Aber ich bin da auf was gestoßen. Glaube ich jedenfalls. Könntest du bitte mal nachsehen, ob du im Zusammenhang mit Mario Brindi irgendwo den Namen Weidemann findest? Er ist Arzt.«
Der Mann sagte wieder etwas. Dann bedankte Manfred sich. »Und bitte beeil dich«, fügte er hinzu, »ich steh hier draußen vor Weidemanns Haustür und es ist scheißkalt.«
Zuerst wartete Manfred im Stehen, aber als Gerd nicht sofort zurückrief, ging er ein Stück die Straße entlang. Wieder tauchte am Himmel ein Flugzeug auf, und wieder fühlte Manfred sich auf beklemmende Art ausgeliefert.
Erst nachdem noch ein Flieger sicher gelandet war, diesmal eine Maschine der British Airways, klingelte endlich das Handy.
Ungeduldig lauschte Manfred Gerds Worten.
»Wusste ich’s doch!«, rief er schließlich zufrieden und bedankte sich bei seinem Kollegen. Dann lief er mit langen Schritten auf das Haus zu, in dem sich die Praxis von Dr. Weidemann befand. Er war sich jetzt sicher, dass auch Brindi diese Adresse
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