Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
im Oktober aufgesucht hatte. Und er würde herausfinden warum.
Der Türöffner summte, sobald Manfred auf die Klingel gedrückt hatte. Er betrat einen kleinen Warteraum. Rechts von ihm befand sich die Anmeldung, eine Art Theke, hinter der eine junge Frau mit Pferdeschwanz saß und ihn freundlich anlächelte. Er trat auf sie zu.
»Manfred Kabritzky. Ich muss mit Dr. Weidemann sprechen.«
»Ja, gern.« Die Frau lächelte unverändert freundlich. »Dürfte ich mal ihre Karte haben? Sie waren noch nicht bei uns, stimmt’s ?«
Manfred runzelte irritiert die Stirn, dann begriff er. »Nein, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich bin kein Patient. Ich muss ihn sprechen. Privat.«
»Oh.« Die junge Frau blinzelte verwirrt. Sie trug ein weißes langärmliges T-Shirt, und auf ihrer Brust prangte, fast genau in der Mitte, allerdings ein wenig schief, ein kleines Namenschild. Schwester Brigitte, entzifferte Manfred. Jetzt stand sie auf. »Ich werde nachsehen, ob er einen Augenblick Zeit hat. Worum geht es denn?«
»Das möchte ich ihm lieber selbst erklären. Sagen Sie ihm, es ist dringend. Das Leben einer Frau hängt davon ab.«
Schwester Brigitte riss die Augen auf, antwortete aber nichts, sondern verschwand in einem Gang, der sich gegenüber der Theke in den hinteren Teil des Hauses erstreckte. Während Manfred wartete, blickte er sich neugierig um. Die Praxis war offensichtlich seit den siebziger Jahren nicht mehr renoviert worden. Eine großflächige, orangegrüne Blumentapete zierte die Wände. Die Ecke ganz links wurde von einem riesigen schiefen Gummibaum eingenommen, und daneben standen an der Wand aufgereiht sechs geschwungene Chromstühle mit braunem Polster. Ein hölzerner Schirmständer mit einem Sammelsurium aus zurückgelassenen Spazierstöcken und Schirmen rundete das Bild ab. Niemand saß auf den Stühlen, allerdings standen in dem kleinen Gang, durch den Schwester Brigitte verschwunden war, zwei weitere. Auf einem davon hatte es sich ein älterer Herr im grauen Anzug bequem gemacht und musterte den Neuankömmling mit unverhohlener Neugier.
Eine Tür öffnete und schloss sich wieder, dann tauchte Schwester Brigitte auf.
»Kommen Sie bitte mit.« Sie lief erneut den Gang entlang. Manfred folgte ihr in ein Zimmer, das von einem riesigen Schreibtisch dominiert wurde, hinter dem ein weißhaariger Mann mit einem Bart saß. Dann glitt sie wieder hinaus und schloss die Tür.
»Setzen Sie sich doch«, forderte Dr. Weidemann ihn auf. »Ihr Name war –?«
Er schwieg abwartend.
Manfred ließ sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder.
»Manfred Kabritzky«, ergänzte er.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Er geht um Mario Brindi .«
Der Arzt zog überrascht die weißen Augenbrauen hoch, entgegnete aber nichts, sondern wartete.
»Sie kennen ihn doch? Er war Ihr Patient. Sie haben ihn damals behandelt, als eins seiner Opfer – eine der Frauen sich wehrte und ihn dabei verletzte. Stimmt’s ?«
»Dürfte ich wissen, ob Sie befugt sind, mich derartige Dinge zu fragen? Sind Sie von der Polizei?«
»Meine Freundin ist verschwunden. Vermutlich hat Brindi sie in seiner Gewalt. Das dürfte reichen als Befugnis. Sie wissen doch, dass er ausgebrochen ist?«
»Ich habe davon gehört.«
»Er war bei Ihnen. Er ist vor zwei Monaten schon einmal aus der Klinik verschwunden, und da war er hier.« Manfred fixierte den Arzt.
»Das fällt unter die ärztliche Schweigepflicht.« Dr. Weidemann sprach freundlich, aber bestimmt. »Das wissen Sie doch sicher.«
Manfred verlor allmählich die Beherrschung. »Eine sehr bequeme Ausrede, diese verdammte Schweigepflicht«, fuhr er den Arzt an. »Damit haben Sie sich doch früher auch schon rausgeredet. Sie hätten damals dafür sorgen können, dass Brindi rechtzeitig verhaftet wird. Es stand in allen Zeitungen, dass eine Frau, die er überfallen hatte, ihn biss, um sich zu wehren. Sie haben seine Bisswunden behandelt. Und sich auf Ihrer Schweigepflicht ausgeruht. Es musste erst ein Mädchen sterben, bevor er gefasst wurde. Das ist Ihre Schuld. Können Sie eigentlich nachts gut schlafen?!«
Der Arzt seufzte und schüttelte den Kopf. »Das ist alles nicht so einfach, wie Sie es jetzt darstellen«, begann er bedächtig. »Die Schweigepflicht von Priestern, Ärzten und Anwälten ist ein kostbares Gut. Das darf man nicht so einfach mit Füßen treten, nur weil es manchmal so scheint, als stünde es dem Recht im Weg.« Er hielt inne und setzte seine Brille ab. Manfred musste
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