Katz und Maus
vor den zu engen Ausgängen der Aula. Ich drängte hinter Mahlke. Er schwitzte und sein Zuckerwasserhaar stand in verklebten Spießen um den zerstörten Mittelscheitel. Noch nie, selbst in der Turnhalle nicht, hatte ich Mahlke schwitzen sehen. Der Mief der dreihundert Gymnasiasten saß als Pfropfen in den Aulaausgängen. Mahlkes Angströhren, diese zwei, vom siebten Halswirbel gegen den ausladenden Hinterkopf stoßenden Muskelstränge, glühten und perlten. Erst auf dem Säulengang vor den Flügeltüren, im Lärm der Sextaner, die sofort wieder ihre Greifspiele begannen, überholte ich ihn und fragte frontal: »Was sagste nun?«
Mahlke guckte vor sich hin. Ich versuchte, an seinem Hals vorbeizuschauen. Es gab zwischen Säulen eine Lessingbüste aus Gips: aber Mahlkes Hals gewann. Ruhig und wehleidig, als wollte er von den langwierigen Gebrechen seiner Tante erzählen, kam die Stimme: »Jetzt müssen sie schon Vierzig runterholen, wenn sie das Ding haben wollen. Ganz zu Anfang und als sie in Frankreich und im Norden fertig waren, bekamen sie es schon, sobald sie Zwanzig – wenn das so weitergeht?«
Die Rede des Leutnants bekam Dir wohl nicht. Wie hättest Du sonst nach solch billigem Ersatz greifen können. Damals lagen in den Schaufenstern der Papiergeschäfte und Textilläden runde, ovale, auch durchbrochene Leuchtplaketten und Leuchtknöpfe. Manche hatten die Form eines Fisches, andere gaben, sobald sie im Dunkeln grünmilchig schimmerten, den Umriß einer fliegenden Möwe wieder. Diese Plaketten wurden zumeist von älteren Herren und gebrechlichen Frauen, die Zusammenstöße auf verdunkelten Straßen befürchteten, an den Mantelaufschlägen getragen; auch gab es Spazierstöcke mit Leuchtstreifen.
Du aber warst kein Opfer des Luftschutzes und hast Dir dennoch fünf oder sechs Plaketten, einen leuchtenden Fischschwarm, einen Pulk segelnder Möwen, Sträuße phosphoreszierender Blumen zuerst an die Mantelaufschläge, dann an den Shawl gesteckt, hast Dir von Deiner Tante ein halbes Dutzend Knöpfe aus Leuchtmasse von oben nach unten an den Mantel nähen, hast Dich zum Clown machen lassen; denn so sah ich Dich, sehe Dich noch, werde Dich lange kommen sehen: während der Winter dauert, im Zwielicht, durch schrägen abendlichen Schneefall oder durch kaum gestufte Dunkelheit schreitest Du immerzu, abzählbar von oben nach unten und zurück, mit ein zwei drei vier fünf sechs schimmelgrün leuchtenden Mantelknöpfen den Bärenweg hinunter: ein dürftiges Gespenst, das allenfalls Kinder und Großmütter erschrecken kann und von einem Leid abzulenken versucht, das in schwarzer Nacht ohnehin verdeckt bleibt; aber Du dachtest wohl: keine Schwärze vermag diese ausge- wachsene Frucht zu schlucken, jeder sieht ahnt fühlt sie, möchte sie greifen, denn sie ist handlich; wenn dieser Winter doch bald vorbei wäre – ich will wieder tauchen und unter Wasser sein.
VI
Als aber der Sommer mit Erdbeeren, Sondermeldungen und Badewetter kam, wollte Mahlke nicht schwimmen. Wir schwammen Mitte Juni zum erstenmal zum Kahn. Viel Lust hatte wir alle nicht. Es ärgerten uns die Schüler der Untertertia und Obertertia, die vor und mit uns zum Kahn schwammen, in Rudeln auf der Brücke hockten, tauchten und das letzte abschraubbare Scharnier hochholten. Mahlke, der einst hatte bitten müssen: »Laßt mich mitschwimmen, ich kann jetzt schwimmen«, wurde von Schilling, Winter und mir belästigt: »Komm doch mit. Ohne Dich ist nischt los. Sonnen können wir uns auch auffem Kahn. Vielleicht findest du wieder was Dolles unten.« Widerwillig, und nachdem er mehrere Male abgewinkt hatte, stieg Mahlke in die warme Brühe zwischen Strand und erster Sandbank. Er schwamm ohne Schraubenzieher, blieb zwischen uns, zwei Armlängen hinter Hotten Sonntag, zog endlich ruhig durch und lag zum erstenmal ohne Krampf und Gespritze im Wasser. Auf der Brücke setzte er sich in den Schatten hinter das Kompaßhäuschen und war nicht zum Tauchen zu bewegen. Auch drehte er seinen Hals nicht, wenn die Tertianer im Vorschiff verschwanden und mit Kinkerlitzchen in den Händen wieder hochkamen. Dabei hätte Mahlke die Jungs anlernen können. Manche wollten auch einen Tip von ihm – aber er antwortete kaum. Eigentlich guckte Mahlke fortwährend aus verkniffenen Augen über die offene See in Richtung Ansteuerungstonne, war aber weder durch einlaufende Frachter, auslaufende Kutter, noch im Verband fahrende Torpedoboote abzulenken. Allenfalls U-Boote machten ihn beweglich.
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