Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
arbeiten
musste. »Bald«, hatte die junge Krankenschwester gesagt. Was hieß, bitte schön,
bald? Eine halbe Stunde? Zwei Stunden? Stefan schwitzte. Er hatte sich etwas Arbeit
mitgenommen, packte Listen mit Statistiken aus seiner Mappe und starrte darauf.
Aber heute sagten ihm die Zahlen nichts. Ein junger Arzt trat aus dem Lift und verschwand
in der Gebärabteilung. Ging er zu Nadine? War das ein gutes oder ein schlechtes
Zeichen? Ach was, das war überhaupt kein Zeichen. War wohl normal, dass Ärzte in
einem Spital aus und ein gehen. Bald hatten sie zwei Kinder. Ob das viel verändern
würde? Anfangs schon, bis sich das Kleine eingewöhnt hatte. Lotte freute sich. Sie
war viereinhalb, alt genug, um nicht hilflos der Eifersucht auf die Konkurrenz ausgeliefert
zu sein. Eigentlich wünschte sie sich ein Kätzchen, aber er, Stefan, war allergisch
auf Katzenhaare. Und Lotte hatte dann gefunden, dass ein Geschwisterchen auch okay
sei.
Nadine Attinger hatte nur einen
Wunsch: dass es bald vorbei sein würde. War es wirklich auch so furchtbar gewesen,
als Lotte zur Welt gekommen war? Sie hatte das Gefühl, dass dieses Baby ihren Körper
nicht verlassen wollte, dass es sich dagegen sperrte, auf die Welt zu kommen. Du
musst, dachte sie verbissen und wusste nicht, ob sie das Kind oder sich selbst meinte.
Flüchtig dachte sie an Stefan. Es war schon besser, dass er nicht hier war. Sie
wollte nicht, dass er sie so sah, am Rand ihrer Kräfte, nicht mehr imstande, sich
zusammenzureißen. Sie wollte vor ihm nicht hilflos und schwach sein. Sie wollte
ihn mit einem Lächeln empfangen, mit einem wunderschönen, winzigen Baby im Arm.
Frau Flückiger muss mich kämmen, bevor Stefan kommt, war ihr letzter Gedanke, bevor
eine neue Wehe sie erreichte und ihr alles egal war, außer dem Schmerz.
Assistenzarzt Rainer Stocker machte
sich auf den Weg. Eben war der Anruf von Barbara Flückiger aus dem Gebärsaal 4 gekommen.
Das Baby war auf der Zielgeraden. Ein kurzer Routineeinsatz. Die Schwangerschaft
der Gebärenden, die Mitte dreißig war und schon ein Kind hatte, war völlig unproblematisch
verlaufen, der Geburtsvorgang ebenfalls. Es war Vorschrift, dass bei der Geburt
selbst ein Arzt anwesend sein musste, wirklich nötig war es im Normalfall nicht.
Barbara Flückiger schätzte es auch nicht, wenn sich die Ärzte zu sehr einmischten.
Das hatte er bestimmt nicht vor. Fünf Minuten bleiben, das Kind anschauen, zwei
Worte mit der Mutter wechseln, dann hatte er Mittagspause. Falls er einen Dammriss
nähen musste, würde er das nach dem Mittag tun. Aber da Flückiger die Hebamme war,
wäre es wahrscheinlich gar nicht nötig. Er würde sich in der Cafeteria ein Sandwich
holen und einen Spaziergang machen. Eine Zigarette rauchen. Die Lifttüre öffnete
sich, Rainer Stocker trat heraus und wandte sich der Gebärabteilung zu. Aus dem
Augenwinkel nahm er einen Mann wahr, der unruhig auf einem Sessel herumrutschte.
Vielleicht der Vater?, dachte er flüchtig, ehe die Türe hinter ihm zufiel.
Eine letzte Presswehe, und das Köpfchen
des Babys erschien. Es hat schon einen Haarschopf, registrierte Barbara Flückiger
automatisch. Sie führte den kleinen Körper, als der Säugling aus dem Körper seiner
Mutter glitt, und nahm das Kind auf. Ihr stockte der Atem. Von weither hörte sie
die Stimme der Mutter. »Ist es ein Mädchen oder ein Junge?« Sie antwortete nicht,
drehte sich von der Mutter weg. Starrte auf das Körperchen. Das darf die Mutter
nicht sehen, war ihr einziger Gedanke. Ihr Blick kreuzte sich mit demjenigen von
Beatrice Meier; deren Augen spiegelten ihren eigenen Schock. »Was ist das?«, flüsterte
Beatrice. War das überhaupt ein Kind? Barbara Flückiger hielt immer noch den Säugling
vor sich, der zu schreien begann. Sie suchte den Blick von Doktor Stocker. Er war
weit jünger als sie, weit weniger erfahren. Er schien erstarrt. Auch in seinem Blick
sah sie ungläubiges Entsetzen. Er war ihr jetzt bestimmt keine Hilfe. Sie nabelte
den Säugling rasch ab und wickelte das Wesen in ein vorgewärmtes, safrangelbes Frotteetuch.
Die sanften Farbtöne des Gebärsaals kamen ihr plötzlich schrill vor. Sie drückte
das Kind der Schülerin in die Arme. »Bringen Sie es in die Reanimation. Schnell.«
Beatrice verschwand. »Rufen Sie den Oberarzt«, sagte sie leise zu Doktor Stocker.
»Und auch den Kinderarzt. Los, gehen Sie schon.« Der junge Arzt erwachte aus seiner
Erstarrung und verließ den Saal, ohne einen Blick auf die Mutter zu
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