Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
dichten Haare, und es erfasste sie ein Schauder,
sie fürchtete einen Moment, das Bewusstsein zu verlieren. Sie gab das Wesen an Stefan
weiter.
Mein Gott,
was haben wir da für ein Geschöpf gemacht, war Stefan Attingers erster Gedanke.
Er hielt das Baby im Arm, und es fühlte sich genauso an wie Lotte damals, winzig,
leicht, lebendig und warm. Aber es war eine Karikatur eines Babys, Babys waren niedlich,
aber dieses hier – Stefan fand keinen Ausdruck. Das Kind wurde schwer in seinem
Arm. Er hatte für den Moment alles vergessen, was der Arzt vorhin gesagt hatte.
»Bleibt es so?«, fragte er.
»Man kann
es rasieren«, sagte der Arzt unbehaglich, »später kann man vielleicht mit Laser
etwas machen.«
»Rasieren?
Aber es ist doch ein Mädchen.« Stefan geriet alles durcheinander. Ein Mädchen, dachte
er. Ein Mädchen, das hübsch sein sollte. Das war kein Mädchen, das war ein Lebewesen
von einem fremden Stern. Heruntergefallen von einem weit entfernten, kalten, hässlichen
Planeten. Ein Alien. Was sollten sie bloß mit ihm anfangen. Ich muss mich zusammenreißen,
dachte er. Nadine darf nicht wissen, wie ich empfinde.
Er zwang
sich, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen, und schaute zu Mathis auf.
»Aber sonst ist es gesund, sagten Sie?«
»Ja, wie
es aussieht, ist es ganz gesund«, bestätigte der.
Das Baby
begann zu quäken. »Es hat Hunger«, meinte der Arzt. »Wollen Sie es an die Brust
legen?«
Nadine schüttelte
entsetzt den Kopf. »Nein, lieber ein Fläschchen, wenn es geht«, sagte sie unsicher.
Sie hat
Angst vor dem Kind, dachte Mathis, vor ihrem eigenen Kind. Es ist ihr unheimlich.
Er klingelte einer Krankenschwester. Eine junge Pflegerin kam mit einem Milchfläschchen.
Sie hat es schon gehört, dachte der Arzt, als er ihren schnellen Blick auf den Säugling
registrierte. Natürlich, so etwas spricht sich sofort herum. Morgen wird es in der
Kantine und bei den Putzfrauen das Tagesgespräch sein, ebenso wie bei den Ärzten
und dem Pflegepersonal. Die junge Schwester bemühte sich um Professionalität, aber
sie konnte ihr Erschrecken nicht ganz verbergen. Betont gelassen reichte sie der
Mutter das Fläschchen und sagte in beruhigendem Tonfall: »So, es hat genau die richtige
Temperatur, es wird der Kleinen sicher schmecken.«
Stefan legte Nadine das Baby in
den Arm, und sie hielt ihm das Fläschchen hin, unsicher, als ob sie es zum ersten
Mal täte. Die Kleine begann zu saugen. Nadine entspannte sich ein wenig. Sie spürte
den kleinen Körper an ihrem, die Saugbewegungen, dann wagte sie einen Blick. Die
Kleine hatte die Augen zu, den Mund fest um den Schnuller geschlossen, die Fäustchen
in der ersten großen Anstrengung ihres Lebens zusammengeballt. Ganz unerwartet ergriff
ein Gefühl von Rührung Nadine. Es ist ein Baby, dachte sie, es ist Luzia. Stefan
darf nicht erfahren, was ich vorhin gedacht habe. Ich will es nie mehr denken. Es
ist mein Kind, und ich werde es beschützen. Rasieren, natürlich, wir werden sie
rasieren, und dann wird sie so hübsch sein wie alle anderen Kinder. Wir werden es
schon schaffen. Sie versuchte ein Lächeln. Als Luzia fertig getrunken hatte, nahm
Stefan sie. Nadine ließ sich in die Kissen sinken und schlief augenblicklich ein.
Stefan hielt
das Kind, das ebenfalls in den Schlaf gesunken war und noch nichts von sich wusste.
Er spürte das Vibrieren seines Handys in der Jacketttasche. Erschrak. In der letzten
Stunde hatte er alles ausgeblendet, was außerhalb des Spitalzimmers lag. Es hatte
nur seine Frau, die Ärzte und das Baby gegeben. Nicht einmal an Lotte hatte er gedacht.
Nicht an seine Mutter, nicht an Leon, an nichts und niemanden. Jetzt war das alles
wieder da, andere Menschen, das Zuhause, seine Arbeit, die ganze Realität, in der
sie lebten. In die sie zurückkehren würden, gespannt erwartet von Freunden und Verwandten.
Und wie würden sie zurückkehren? Mit diesem Wesen im Arm. Wir haben versagt, dachte
Stefan, wir passen nicht mehr in die Welt, die bisher auch unsere Welt war. Wir
sind entsetzlich gescheitert bei der normalsten Sache der Welt. Bedrohlich und feindselig
kam ihm die Umgebung vor, die ihm bis jetzt selbstverständlich und vertraut gewesen
war. Das Handy vibrierte noch immer. Er fischte es aus der Tasche, ungeschickt und
vorsichtig, um Luzia nicht aufzuwecken. Das Display zeigte die Nummer seiner Mutter.
Er hob nicht ab. Gott sei Dank lebte sie in der Ostschweiz. Sie wäre sonst imstande,
plötzlich im Spital aufzutauchen. Wie
Weitere Kostenlose Bücher