Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
würde sie es aufnehmen? Schlecht, zweifellos.
Sie zeigte in ihrem Bekanntenkreis gern Fotos von Lotte herum, von Lotte, die niedlich
aussah mit ihren blonden Locken. Erzählte gern Anekdoten über ihre Enkeltochter,
die lebhaft und einfallsreich war. Was gäbe es über Luzia zu sagen? Sein Herz wurde
schwer.
Das Handy
vibrierte erneut. Leon, Lottes Pate. Diesmal nahm Stefan das Gespräch an.
»Ist alles
in Ordnung bei euch? Deine Mutter hat mich grad angerufen. Alarmiert, weil du dein
Telefon nicht abnimmst.«
»Ach, Leon«,
Stefan schluckte. »Nein, es ist nicht alles in Ordnung. Wart einen Moment.«
Er legte
das Baby in sein Bettchen und ging aus dem Zimmer. Nadine schlief, und er wollte
sie keinesfalls wecken. Was sollte er Leon bloß sagen? In den wenigen Sekunden,
bis er das Handy wieder ans Ohr hielt, wurde Stefan eines klar: Das war jetzt sein
Job, die Fäden zu knüpfen zur Außenwelt. Dazustehen und zu sagen, nichts ist mehr,
wie es war. Wir sind nicht mehr die, die wir waren. Nehmt uns, wie wir sind, oder
lasst es bleiben.
Ambras-Syndrom?
Nein, auch Leon, der Buchhändler war und seit zwei Jahren mit einem Partner ein
größeres Antiquariat führte, hatte noch nie davon gehört. Er schwieg eine Weile.
Dann sagte er: »Hat euch ziemlich mitgenommen. Ist ja klar. Ich komme jetzt mal
her mit Lotte.«
Nein, wollte
Stefan rufen, aber das war natürlich Unsinn. Was würde es ändern, wenn sie das Baby
noch ein paar Stunden oder Tage verstecken würden? Nichts. »Okay, kommt her. Versuch,
Lotte ein wenig vorzubereiten.«
Leon, der
nicht verheiratet war und keine Kinder, sondern rasch wechselnde Freundinnen hatte,
verstand sich prima mit seinem Patenkind. Stefan fühlte sich ein bisschen ruhiger.
Es ist jetzt einfach, wie es ist, dachte er. Dann rief er seine Mutter an. Sie reagierte
wie erwartet.
»Eine Art
Behinderung? Ihr müsst unbedingt abklären, woher das kommt. Sicher von Nadine!«
Sie hatte Nadine nie gemocht, hatte immer gefunden, sie mache zu wenig her für ihren
Sohn. Kam aus einer einfachen Familie. Sah unauffällig aus. War zu wenig geistreich.
»Nein, Mama,
du kommst jetzt nicht her«, sagte Stefan fest. »Wir geben dir Bescheid, wann du
uns besuchen darfst. Nadine geht es nicht gut. Sie ist erschöpft und durcheinander
und braucht Ruhe.«
»Na ja,
wenn du meinst.« Seine Mutter gab ungewohnt rasch nach. Vielleicht ist sie im Grunde
genommen froh, das Baby nicht gleich sehen zu müssen, dachte Stefan, vielleicht
fürchtet sie sich vor der Enttäuschung. Er ging zurück ins Zimmer. Luzia schlief,
aber Nadine war am Aufwachen. Stefan strich ihr übers Haar.
»Leon und
Lotte kommen gleich her«, flüsterte er.
Nadine riss
die Augen auf. »Aber, was werden sie sagen?« Sie drängte gewaltsam die Tränen zurück.
»Luzia ist
Lottes Schwesterchen und Leons Nichte, natürlich sollen sie sie sehen. Wir können
sie nicht verstecken.«
»Verstecken«,
sagte Nadine müde. »Was meinst du, warum sie mir das Einzelzimmer gegeben haben,
wo ich doch nur allgemein versichert bin. Damit sie versteckt ist. Damit sich nicht
das halbe Spital das Maul über dieses Baby zerreißt.« Sie hielt erschrocken inne.
Solche Gedanken wollte sie vor Stefan nicht preisgeben.
»Vor Leon
und Lotte müssen wir sie nicht schützen«, sagte Stefan. »Sie werden sie mögen.«
Aber insgeheim fürchtete er sich. Vor allem vor Lottes Reaktion. Sie war zu klein
für Höflichkeiten. Äußerte für gewöhnlich ganz unverblümt ihre Meinung. Was, wenn
sie den Säugling ablehnte? Und Leon? Er stand ihnen von der Familie am nächsten.
Er war einige Jahre älter als Nadine. Ging auf die vierzig zu und hatte sich schon
als Kind großzügig und mit Humor um die jüngere Schwester gekümmert. Er war gescheit,
warmherzig, zuverlässig. Nur auf eine verbindliche Beziehung mit einer Frau hatte
er sich nie einlassen wollen. »Familie?«, sagte er jeweils heiter. »Wozu? Ich habe
ja euch.« Was, wenn nun Leon nicht standhielt? Dann wären wir am Arsch, bilanzierte
Stefan.
Es klopfte
leise an die Türe, dann ging sie auf und Leon und Lotte kamen herein. Leon war groß,
fast eins neunzig, und massig und hatte einen dichten, immer unordentlichen Haarschopf.
Neben ihm trippelte Lotte, die, obwohl groß für ihr Alter, neben ihm winzig wirkte.
Stefan sah aus dem Augenwinkel, dass Nadine die Augen wieder geschlossen hatte.
Schlief sie oder tat sie nur so? Lotte ging auf Zehenspitzen. »Wo ist es?«, flüsterte
sie.
Stefan ging
ihr entgegen,
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