Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
hob sie auf den Arm, drückte sie an sich. »Komm.« Er ging mit ihr
zum Bettchen. Lotte schaute lang auf den Säugling. Stefan suchte Leons Blick. Ihm
war nichts anzumerken.
»Darf ich
sie mal halten?«, flüsterte Lotte. In ihren Augen war kein Schrecken, kein Entsetzen,
nur gespanntes Interesse. Stefan setzte sie auf einen Sessel und legte ihr Luzia
in den Arm.
»Und sie
hat überall solche Haare?«, fragte Lotte.
Ihr Vater
nickte.
»Auch auf
dem Bäuchlein und an den Füßchen? Darf ich mal sehen?«
Einen Augenblick
hatte Stefan das Gefühl, die Situation einfach nicht mehr ertragen zu können. Leon
sprang ein. »Klar.« Er öffnete das Jäckchen des Babys und schob das Hemdchen hoch.
»Wir ziehen sie nicht ganz aus, sonst friert sie.«
Lotte betrachtete
fasziniert das Körperchen ihrer kleinen Schwester. Strich mit der Hand vorsichtig
über das flaumige Pelzchen.
»Ganz weich«,
murmelte sie. Nadine öffnete die Augen. Sie hat nicht geschlafen, dachte Stefan.
Sie hatte Angst. Lotte schaute zu ihrer Mutter. »Hallo, Mama. Bist du müde? Nicht
wahr, das ist ein ganz spezielles Baby, das wir bekommen haben?«
Stefan schickte
einen stillen Dank zu Leon.
»Es sieht
ein bisschen wie – wie ein Kätzchen aus«, fuhr Lotte fort. »Kann es miauen?«
Nadine wurde
blass. Stefan schritt ein. »Nein, es schreit genauso wie alle kleinen Kinder«, sagte
er hastig.
»Schade«,
meinte Lotte. »Vielleicht können wir es ihm beibringen.«
Wechselbalg
Frühlingssonne fiel durchs Fenster.
Luzia, die auf dem Wickeltisch lag, blinzelte, als das Licht sie blendete, verzog
unlustig ihr Gesichtchen und stieß einen Protestlaut aus. Nadine zog rasch den Vorhang
zu. Luzia strampelte, aber Nadine hob ihre Beinchen an, schob ihr die Windel rasch
unter den Po und verklebte sie über dem Bauch. »Bäh«, machte das Baby, reckte die
Ärmchen und schaute die Mutter an. Es fasste sich ins Gesicht und zog an einem Büschel
Haare. »Schon gut, Kleine«, murmelte Nadine, »gleich machen wir dich hübsch. Gib
mir ein Händchen.«
Sie nahm
den Rasierapparat und führte ihn behutsam über den Handrücken und die Fingerchen.
Luzia ließ es geschehen. »Und jetzt tapfer sein«, sagte Nadine. Sie hielt den Kopf
des Kindes mit der einen Hand und setzte den Rasierapparat auf der Stirn an. Luzia
begann zu weinen. Im Gesicht rasiert zu werden liebte sie nicht. Der Kinderarzt
hatte Nadine versichert, es bereite ihr keine Schmerzen, und Nadine war hin- und
hergerissen. Es war ihr klar, dass sie das nicht für Luzia tat, sondern für sich
selbst, für die Familie. Dem Baby, das noch nichts von sich selbst wusste, lag überhaupt
nichts daran. »Du möchtest doch auch, dass die Leute sagen, was für eine süße kleine
Luzia, nicht wahr«, flüsterte Nadine. Sie rasierte die Kleine längst nicht jeden
Tag, denn es strapazierte die zarte Babyhaut. Aber heute wollte sie sie spazierenfahren,
es war so mildes Wetter. Luzia zog eine Grimasse und schrie lauter. So ging es nicht.
Nadine ließ von ihr ab. Nimm es ruhig, dachte sie, das kommt schon. Sie streifte
der Kleinen ein winziges langärmliges Hemdchen, einen hellen Strampelanzug und ein
buntes Baumwolljäckchen über.
Drei Wochen
alt war sie jetzt, seit zwei Wochen waren sie zu Hause. Nadine war müde, aber weniger
als seinerzeit bei Lotte. Lotte hatte sie gestillt und deshalb immer nachts aufstehen
müssen. Luzia bekam das Fläschchen, und das übernahm Stefan jede zweite Nacht. Trotzdem
fühlte sich Nadine nicht ganz wach. Ihr anfänglicher Schrecken, ihre Verzweiflung
über den missgestalteten Säugling hatte sich gelegt. Schon nach ein paar Tagen im
Spital hatte sie die neugierigen Blicke der Putzfrau und der Schwesternhilfen einfach
ausgeblendet. Sie kümmerte sich um Luzia, wickelte, fütterte sie, hielt sie im Arm,
summte eine Melodie, wenn die Kleine schrie. Zu Besuch waren nur Stefan, Lotte und
Leon gekommen. Stefan hatte Verwandte und Freunde abgewimmelt. Manchmal horchte
sie nach innen, fragte sich, was sie fühlte. Es war nicht viel, und sie war froh
darum. Es geht ja, dachte sie. Sie betrachtete ohne Widerwillen das pelzige Körperchen
ihrer Tochter. Ich gewöhne mich daran. Sie lebte seit der Geburt in der kleinen
Welt ihrer Familie, mit Stefan, der behutsam mit ihr umging, und Lotte, die ihr
Schwesterchen streichelte und, wenn sie dachte, die Mama höre es nicht, ihr leise
vormiaute. Natürlich konnten sie nicht in diesem Kokon bleiben. In drei Wochen würde
Greta, Stefans Mutter,
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