Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
zu Besuch kommen. Es müsste mir Angst machen, dachte Nadine,
aber es lässt mich völlig gleichgültig. Soll sie doch sagen, was sie will. »Bäh«,
machte Luzia. Genau, nickte Nadine. Bäh. Sie küsste das Baby auf die Nasenspitze,
worauf die Kleine das Näschen krauszog.
Vor ein
paar Tagen hatten Stefan und sie miteinander darüber geredet, wie sie mit der Situation
umgehen wollten. Seither war sie zuversichtlich. Stefan war vernünftig und er war
stark. Keinen Moment hatte er schlappgemacht beim ersten Anblick ihres Kindes. Nicht
wie sie, die entsetzt und verzweifelt gewesen war. Er darf nie erfahren, wie es
in mir ausgesehen hat, dachte sie. Stefan sah es richtig: Es machte keinen Sinn,
sich zurückzuziehen, das Baby zu verstecken. Sie konnten auch nicht so tun, als
ob nichts wäre, denn eine tägliche Rasur tat der Haut nicht gut und wäre für die
Kleine ein Stress gewesen. Sie würden ihr Hände und Gesicht rasieren, wenn Besuch
anstand, und im Übrigen halt erklären, dass sie an diesem Gendefekt litt. Sie zuckte
die Schultern. Jedenfalls würde sie heute hinausgehen mit den Kindern. Die letzten
beiden Wochen war das Wetter unfreundlich gewesen, Luzia hätte sich draußen womöglich
erkältet. Sie legte die Kleine in ihr Bettchen zurück und ging in die Küche. Es
war eine helle, gemütliche Wohnküche mit einem großen Tisch und einer Eckbank. Am
Küchenschrank hingen, nachlässig angeklebt, einige Kinderzeichnungen. Nadine räumte
das Frühstücksgeschirr in den Geschirrspüler und wischte den Tisch sauber. Dann
ging sie ins Wohnzimmer hinüber und nahm ein paar Spielsachen vom Boden auf. Dem
Raum sah man an, dass er auch für Kinder eingerichtet war. Die Möbel waren hell,
funktional und robust. Auf dem Sofa, das mit einem starken dunkelroten Leinenstoff
bezogen war, durfte Lotte herumturnen. Und wenn sie herunterfiel, landete sie auf
einem weichen Wollteppich. Nadine brachte Lotte die Spielsachen in ihr Zimmer. Sie
seufzte. Obwohl sie mit dem Mädchen jeden Abend ihr Zimmer aufräumte, herrschte
jeweils schon am nächsten Vormittag wieder ein Chaos. Malblock und Farbstifte, kleine
Plastiktiere, ein Puppenhaus – Kinder haben heutzutage einfach zu viele Sachen,
dachte Nadine. Selbstverständlich wurde Lotte an Geburtstagen und Weihnachten von
den Eltern, der Großmutter, von Patin und Paten verwöhnt. Ihrer Enkelin gegenüber
war Greta Attinger weichherzig und großzügig.
»Lotte«,
schlug Nadine vor, »komm, wir gehen spazieren mit Luzia.«
Lotte, die
auf dem Boden gesessen und an einem Legohaus gebaut hatte, stand auf. »Darf ich
meinen Puppenwagen auch mitnehmen?«
»Klar. Welche
Puppe willst du ausfahren?«
»Keine Puppe.
Mischa darf mitkommen. Sie ist wie ein Schwesterchen von Luzia.«
Nadine seufzte.
Mischa war eine Plüschkatze, die Lotte liebte. Für sie war Luzia zwar ihre kleine
Schwester, aber auch ein wundersames Fabelwesen, das sie sich unbeschwert zusammenfantasierte.
»Lotti,
Luzia ist kein Kätzchen. Sie ist ein kleines Mädchen. Genau wie du«, sagte Nadine
streng. Lottes unbefangene Vorstellungskraft machte ihr einen Moment lang Angst.
Eine Viertelstunde
später traten sie aus dem Haus, die große Mutter mit dem Säugling im Wagen und die
kleine mit ihrem Kätzchen. Sie schob den Kinderwagen um die Ecke. Frau Kösch, die
im gleichen Haus wohnte, kam ihnen entgegen. Nadine hatte plötzlich weiche Knie.
»Ach, Frau
Attinger«, rief Frau Kösch, »endlich sehe ich Sie einmal. Und das Baby!« Sie beugte
sich über den Wagen. Noch bevor sie hingesehen hatte, sagte sie: »Wie süß!« Dann
brach sie ab. Richtete große, erschrockene Augen auf Nadine. »Aber was ist das denn?«,
fragte sie bestürzt.
Jetzt fängt
es an, dachte Nadine. Sie dachte kurz und intensiv an Stefan und begann dann, der
Nachbarin ruhig zu erklären, was mit dem Baby los war. Die hörte nur halb hin.
»Was für
ein Unglück!«, rief sie aus. »Das arme Würmchen. Es wird immer so aussehen, sagen
Sie? Ach, so ein Armes. Sie sind aber eine tapfere Frau. Sie werden es sicher in
ein Heim geben, nicht wahr? Da ist es ihm bestimmt wohler. Ach, wie traurig! Der
liebe Gott hat es nicht gut gemeint mit ihm!«
Nadine traute
ihren Ohren nicht. »Nein, wir werden es nicht weggeben. Es ist gesund«, sagte sie
hilflos.
Lotte mischte
sich ein. »Das ist mein Schwesterchen. Das ist kein armes, sondern ein ganz spezielles
Baby. Vielleicht kann es zaubern oder fliegen«, sagte sie eifrig. »Wenn es größer
ist, wird das
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