Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
sagen. Das wissen nur du und ich. Melanie sagen wir es
auch nicht. Sie darf nicht mehr meine Freundin sein.«
Es klingelte. Nadine warf einen
prüfenden Blick in den Backofen, bevor sie ihn ausschaltete und hinausging, um zu
öffnen. Es war Leon. Er nahm sie in die Arme. »Na, Schwesterchen, geht’s gut?« Er
schnupperte. »Oh, das riecht aber lecker. Ich hab schon einen Bärenhunger.« Er fuhr
sich durch den verstrubbelten Schopf und strich sich über den massigen Bauch.
»Benja,
leg dich hin.« Seine Boxerhündin, nicht mehr die Jüngste, mit angegrauter Schnauze,
aber immer noch recht lebhaft, war bereits auf dem Weg in die Küche.
Lotte eilte
herbei, warf sich Leon in die Arme und zog dann mit Benja, die sie sehr liebte,
in ihr Zimmer ab.
»Es freut
mich, dass du da bist«, sagte Nadine. »Eliane kommt in einer halben Stunde. Und
ich habe natürlich extra viel gekocht, damit du auch satt wirst.« Nadine freute
sich wirklich. Ihr älterer Bruder war der einzige Mensch außer Stefan, zu dem sie
im Moment Vertrauen hatte. Er hatte auf Luzia nicht schockiert oder abgestoßen reagiert,
aber die Situation auch nicht zu verharmlosen versucht. »Natürlich müsst ihr euch
darauf gefasst machen, dass es Leute gibt, die eure Kleine ablehnen werden. Das
ist auch bei Familien mit einem behinderten Kind so«, hatte er gesagt. »Einfach
wird es nicht werden. Aber ihr seid nicht die Einzigen, denen das zustößt.«
Auf diese
Weise hatte er so etwas wie Normalität in die Situation gebracht. Sie waren nicht
die Einzigen. Auch andere Familien hatten gegen Widerstände und Vorurteile zu kämpfen.
Aber ob auch andere Mütter beim ersten Blick auf ihr Baby zusammenzuckten und von
einer Welle aus Angst und Abscheu überschwemmt wurden? Gewiss nicht. Nadine würde
das Leon nie eingestehen. Und es war ja auch besser geworden. Luzia duftete zart
und süß wie jeder andere Säugling, und ihre Laute waren ganz normale heitere oder
missvergnügte Babylaute. Dennoch konnte Nadine ihre ersten Gefühlsregungen nicht
vergessen, und Schuldgefühle nagten an ihr.
Jetzt blickte
Leon sie forschend an. »Alles in Ordnung? Du machst einen etwas angeschlagenen Eindruck.«
Ach, er
kannte sie einfach zu gut. Sie konnte nicht viel vor ihm verbergen. Sie versuchte
zu lachen. »Es war nichts Besonderes. Wir wussten ja, dass wir uns auf solche Dinge
vorbereiten mussten.« Sie erzählte ihm kurz von der Begegnung mit der Nachbarin
und vom Kommentar von Melanies Mutter letzte Woche. »Ich muss wohl noch lernen,
das als blödes Geschwätz abzutun.«
Leon legte
ihr einen Finger unters Kinn und zwang sie, ihn direkt anzuschauen. »Das tut ordentlich
weh, nicht wahr?«
Zu ihrem
Ärger merkte sie, dass ihr die Tränen kamen. Sie schwieg, weil sie sonst das Weinen
nicht mehr hätte zurückhalten können.
»Schon gut«,
sagte er, »natürlich tut es weh. Mit der Zeit wirst du besser damit fertigwerden.«
»Sag nichts
davon zu Eliane«, bat sie ihn. »Ich habe ja auch ein wenig Angst, wie sie auf Luzia
reagieren wird. Ich hatte sie doch gefragt, ob sie Luzias Patin werden will, und
sie hat Ja gesagt. Aber das war noch vor der Geburt, verstehst du?«
»Das kommt
schon gut«, meinte er, »ihr seid Freundinnen, und sie hat ja auch ein Baby.«
Nadine begann,
den Salat zu waschen, und Leon rührte eine Salatsauce zusammen. Der Tisch war gedeckt,
der Nudelauflauf fertig und Nadine in heiterer Stimmung, als Eliane mit Noah eintraf.
Der sechsmonatige Junge war schlechter Laune. Er brüllte, seine dicken Wangen waren
krebsrot, die Nase verschleimt, die Mundwinkel verklebt vom Brei, den ihm die Mutter
im Zug eingegeben hatte, und er stank.
»Entschuldige«,
rief Eliane, »ich muss ihn erst mal wickeln.« Eliane war klein und rundlich, meist
fröhlich und etwas aufgeregt. Sie hatte ihre braunen Haare am Hinterkopf zusammengebunden,
aber jetzt hing ihr eine Strähne aus der Frisur und ihre helle Bluse hatte einen
Fleck. Offenbar war die Reise mit Noah anstrengend gewesen.
Nadine stellte
den Backofen nochmals an, um den Auflauf warm zu halten, und zeigte Eliane das Badezimmer.
Auch normale Kinder können einen miserablen Eindruck machen, stellte sie für sich
etwas beruhigt fest. Eliane wickelte ihren Sohn, wusch den Fleck aus, kämmte sich
und zog die Lippen nach. Danach gingen sie zu Luzia, die satt, sauber und friedlich
in ihrem Bettchen lag.
»Aha«, meinte
Eliane, »das ist sie also.« Es klang ein bisschen, als bekäme sie einen
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