Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
gutbürgerliche Rosenberg-Quartier
geleitet. »Nach 50 Metern rechts abbiegen, dann haben Sie Ihr Ziel erreicht«, vermerkte
die Stimme. Streiff parkierte den Wagen am Straßenrand, Elmer und er stiegen aus
und sahen sich um. Es war eines der besseren Wohnviertel der Stadt. Eine ruhige
Quartierstraße ohne Durchgangsverkehr, ältere Mehrfamilienhäuser, zum Teil Jugendstil,
darum herum Gärten mit alten Bäumen und gepflegtem Rasen.
Sie klingelten.
Die alte Frau, die ihnen öffnete, passte zum Ambiente. Das graublaue Haar in Wellen
gelegt, ein Kostüm, das sicher einiges gekostet hatte, wie Zita sofort feststellte,
das Gesicht dezent geschminkt, so sah ihnen Greta Attinger entgegen. »Bitte?«, sagte
sie höflich.
Entweder
hat sie wirklich keine Ahnung, warum wir kommen, oder sie verstellt sich ausgezeichnet,
ging es Streiff durch den Kopf.
»Kriminalpolizei
Zürich«, stellte er sich und Elmer vor.
»Ist etwas
passiert?« Sie wurden hereingebeten ins großzügige Entrée, aber nicht ins Wohnzimmer.
Greta Attinger schien das Gespräch im Stehen abwickeln zu wollen. Wahrscheinlich
sind wir für sie eine Art Lieferanten oder Bedienstete, dachte Streiff. Bitte, wie
Sie wollen, Madame. Dann rief er sich zur Ordnung. Immerhin musste er eine alte
Frau vom Tod ihrer Enkelin unterrichten. Die Frau stand vor ihnen, hoch aufgerichtet,
höflich, aber ohne ein Lächeln. »Vornehm«, hatte die Nachbarin, Frau Kösch, sie
beschrieben. Das trifft es, dachte Elmer, sie wirkt ein wenig wie aus einer anderen
Zeit. Auch wenn uns kein Dienstmädchen mit weißer Schürze und Häubchen die Tür aufgemacht
hat.
»Ich fürchte,
Sie haben noch nichts davon gehört, was der Familie Ihres Sohnes zugestoßen ist?«,
begann Streiff.
»Etwas zugestoßen?
Stefan?«, die Frau hielt einen Augenblick den Atem an. Nun wirkte sie plötzlich
zittrig.
»Vielleicht
können wir uns setzen?«, schlug Elmer vor.
Greta Attinger
bat sie ins Wohnzimmer, und sie nahmen auf einer ausladenden Polstergruppe in dezentem
Pastellton Platz.
»Was ist
mit Stefan?«, stieß sie hervor. »Sagen Sie es mir endlich.«
Stefan,
dachte Streiff, ihre einzige Sorge gilt ihrem Sohn.
»Ihrem Sohn
ist nichts passiert. Aber Ihrer Enkelin.«
»Lotte?
Was ist mit Lotte? Ist sie unter ein Auto gekommen? Nadine passt nicht richtig auf
sie auf.«
Streiff
gab es auf, behutsam vorgehen zu wollen.
»Ihre jüngere
Enkelin Luzia ist tot«, sagte er brutal.
»Luzia?«
Einen Augenblick lang schien sie nicht zu wissen, von wem die Rede war. »Luzia,
ja. Sie war nicht gesund, sie war schwer behindert. Sie ist also gestorben? Aber
warum kommen Sie her, um mir das zu sagen? Warum hat nicht Stefan mich angerufen?
Wann ist sie denn gestorben?«
Elmer schaltete
sich ein. »Ihre Enkelin Luzia wurde vorgestern Mittag ertrunken aufgefunden. Jemand
hat sie in den Katzenbach geworfen. Sie wurde getötet.«
»Getötet«,
wiederholte die alte Frau langsam. »Hat Nadine sie getötet? Hat man sie verhaftet?«
Elmer und
Streiff wechselten einen Blick. Elmer zog einen kleinen Laptop aus der Tasche, schaltete
ihn ein und begann, das Gespräch mitzuschreiben.
»Wir haben
noch keine Ahnung, wer sie getötet hat. Wie kommen Sie darauf, dass ihre Mutter
es getan hat?«
»Wer denn
sonst?«, murmelte Greta Attinger. »Vielleicht ist es das Beste so.«
»Sie waren
doch vorgestern Vormittag in der Nähe des Hauses, in dem Ihr Sohn mit Familie wohnt«,
sagte Streiff. »Was wollten Sie dort?«
»Ich? Dort?«
Die Frau riss die Augen auf.
»Eine Nachbarin
hat Sie gesehen und erkannt.«
Nach einer
Pause antwortete die alte Frau zögernd: »Ja, ich war dort. Aber ich bin nicht zu
Nadine gegangen, ich bin wieder umgekehrt. Ich wollte – ich wollte mit Nadine reden.
Aber dann sah ich sie mit Lotte zum Nachbarhaus eilen. Sie schien sehr aufgeregt
zu sein.«
»Worüber
wollten Sie mit ihr reden?«
Ȇber dieses
Kind. Sie verstehen das nicht. Haben Sie es überhaupt gesehen? Wissen Sie, wie es
aussieht?«
Streiff
und Elmer nickten.
»Das war
kein normales Kind. Das einzig Richtige wäre gewesen, es in ein Heim zu geben. Dort
sorgt man für solche …, solche Geschöpfe. Sie sind dort unter ihresgleichen, da
geht es ihnen am besten. Stefan und Nadine hätten ein weiteres Baby haben können.
Man hätte dieses Kind vergessen können. Mit Stefan konnte ich darüber nicht reden.
Er wollte nichts davon hören. Er hat mir sogar die Tür gewiesen, mein eigener, einziger
Sohn.« Sie schnaufte empört.
»Aber
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