Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
neun. Benja trabte in die Küche, und er hörte sie geräuschvoll trinken.
Er gähnte. Seine Wohnung war in einem alten Jugendstilhaus, das schon länger nicht
renoviert worden war. Die Räume waren groß und hoch und die Wände hätten einen neuen
Anstrich vertragen können. Aber das kümmerte ihn nicht. Besonders hell war die Wohnung
nicht, da sie im Erdgeschoss lag, auf zwei Seiten umgeben von einem Garten mit Büschen
und Bäumen. Leon war kein besonders ordentlicher Mensch. Stapel von Fachzeitschriften,
Büchern und DVDs lagen herum, eine vernachlässigte Zimmerpflanze verstreute ihre
vertrockneten Blätter auf dem Parkettboden, auf dem Couchtisch standen vom Vorabend
eine halbleere Flasche Wein und zwei Gläser. Leon ging in die geräumige Küche, schaute
in den Kühlschrank, der fast leer war, und fischte dann aus der Gefrierschublade
eine Packung Lasagne, die er in den Ofen schob. Im Wohnzimmer schenkte er sich ein
Glas Wein ein und setzte sich draußen auf dem Sitzplatz auf die Bank. Das Telefon
klingelte. Er kramte das Handy aus der Hosentasche, warf einen Blick auf das Display
und entschied, nicht abzuheben. Carla, seine momentane Freundin. Seit ein paar Monaten
waren sie zusammen. Gestern Abend war sie hier gewesen, der Abend war schön gewesen,
die Nacht toll, aber warum rief sie schon wieder an? Ihre Bemerkung gestern, seine
Wohnung wäre auch geräumig genug für zwei, hatte ihm nicht gefallen. Frauen. Sie
wollten einfach nicht einsehen, dass er ein Junggeselle war. Es würde mich glatt
verrückt machen, wenn da jeden Abend eine Frau nach Hause käme oder, noch schlimmer,
auf mich warten und womöglich hinter mir herräumen würde, dachte er. Seine Wohnung
war sein Reich, hier wollte er seine Ruhe haben nach einem anstrengenden Arbeitstag.
Er wollte lesen, Musik hören, fernsehen, wie es ihm passte. Er konnte mit Bügeleisen,
Staubsauger und Kochherd umgehen – was brauchte es mehr? Diskussionen über Zahnpastareste
im Waschbecken oder Staubflocken zwischen den Bücherstapeln? Sicher nicht. Carla
war lieb und sah gut aus, aber vielleicht war es langsam Zeit, sich ein bisschen
zurückzuziehen. Das Telefon klingelte wieder. Diesmal war es die Nummer eines Kunden.
Nein, mein Lieber, dachte Leon, morgen bin ich wieder für dich da. Er holte sich
in der Küche die Lasagne, die kräftig nach Italien duftete, und begann zu essen.
Er überlegte sich, das Telefon auf lautlos zu stellen, unterließ es aber für den
Fall, dass Nadine anrufen würde. Nadine, Stefan, Lotte. Sie waren ihm den ganzen
Tag im Kopf herumgegangen. Ich werde nachher noch anrufen, nahm er sich vor. Nadine
war nie besonders kräftig gewesen, weder körperlich noch seelisch. Ein zartes, ängstliches
Mädchen war sie gewesen. Er hatte sie gegen die Nachbarsjungen beschützt, versucht,
ihr Fußball beizubringen, großzügig den Papa für ihre Puppen gespielt. In der Schule
hatte sie mittelmäßige Noten gehabt. Sie war sicher nicht dumm, aber leicht entmutigt,
sie traute sich nicht viel zu. Die Banklehre hatte ihr gefallen, aber sie hatte
nicht versucht, beruflich weiterzukommen. Leon hatte sich gefreut, als sie Stefan
geheiratet hatte. Er war ein verlässlicher Mann, bei dem sie sich aufgehoben fühlte.
Trotzdem hatte Leon es falsch gefunden, dass sie nach Lottes Geburt ihre Erwerbstätigkeit
aufgegeben hatte. Es war nicht anzunehmen, dass Stefan irgendwann aus dieser Ehe
aussteigen würde, aber dennoch, eine Ehe war keine Lebensversicherung. Doch Nadine
hatte es so gewollt. »Lass mich, Leon«, hatte sie gesagt, »ich habe genug zu tun
mit Lotte, ich bin glücklich so. Und wir möchten ja noch ein zweites Kind.« Eines
hatte sie verloren, und dann war Luzia gekommen. Leon kannte seine Schwester, ihm
war nicht verborgen geblieben, dass es ihr in den letzten vier Monaten immer schlechter
gegangen war, auch wenn sie nicht hatte darüber reden wollen. Und jetzt das. Luzia
tot. Getötet worden. Leon machte sich ernsthaft Sorgen um Nadine. Wie würde sie
das verkraften? Würde sie darüber hinwegkommen? Was konnte er für sie tun? Und,
verdammt noch mal, wer hatte das getan? Wer hatte das der Familie angetan? Der Teller
war leer, Leon hatte die Lasagne in sich hineingeschaufelt, ohne zu merken, was
er aß. Er holte aus dem Wohnzimmer die Rotweinflasche und schenkte sich nochmals
ein. Und Spätzchen Lotte. Sie sprach nicht mehr seit Luzias Tod, hatte Nadine ihm
berichtet. Luzia. Was wäre aus ihr geworden? Leon zweifelte nicht daran, dass sie
ihr
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