Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
ab.
Sie empfing
ihn milde, schloss ihn in die Arme und murmelte: »Mein armer Sohn, mein armer, armer
Stefan.« Einen Augenblick lang wäre er gern fünf Jahre alt gewesen und hätte sich
der Umarmung überlassen. Er machte sich behutsam frei und folgte ihr ins Wohnzimmer.
Der Tee stand schon bereit, sie hatte das beste Service hervorgeholt, dünnes, zart
bemaltes Porzellan, das sonst nur an Weihnachten und an Geburtstagen zum Einsatz
kam. Vielleicht tut es ihr wirklich leid, was uns zugestoßen ist, hoffte Stefan.
Trotzdem wollte er vor allem eines klären.
»Eine Nachbarin
hat ausgesagt, sie habe dich am Montagvormittag bei uns gesehen, Mutter«, begann
er, »warst du wirklich da? Was wolltest du denn?«
Sie wich
aus. »Meine Enkelin wieder einmal sehen, zum Beispiel. Ich bin ja seit Längerem
nicht mehr eingeladen worden.«
»Du weißt,
warum. Du hättest doch anrufen können. Du musst einen anderen Grund gehabt haben,
unangemeldet aufzutauchen. Und warum bist du wieder umgekehrt?«
Greta Attinger
schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Ich wollte mit Nadine reden. Über Luzia. Und
über Lotte. Ich glaube nicht, dass es für Lotte gut gewesen wäre, mit einer solchen
Schwester aufzuwachsen. Ich hatte mir Prospekte besorgt von Institutionen, die solche
Kinder aufnehmen.«
»Ich hatte
dir doch gesagt, dass das für uns nicht infrage gekommen wäre.«
»Ja, du
hast das gesagt. Aber ich hatte den Eindruck, dass Nadine überfordert war. Ich wollte
einmal ihre Meinung hören.«
»Du wolltest
sie unter Druck setzen, weil sie sich weniger gut wehren kann als ich.« Stefan schüttelte
resigniert den Kopf. »Ist dir eigentlich bewusst, wie hart und grausam du bist?«
»Du bist
ungerecht. Ich war dir immer eine gute Mutter. Ich habe alles für dich getan.«
Stefan ließ
das unkommentiert stehen.
»Nun ja«,
murmelte Greta, »das ist ja jetzt obsolet, dieses Problem besteht nicht mehr.«
»Unsere
Tochter Luzia ist tot«, sagte Stefan langsam, »unter schrecklichen Umständen gestorben,
und du hast es nicht einmal fertiggebracht, uns dein Beileid auszusprechen.«
»Ist es
denn nicht besser so?«, fragte Greta und legte ihm die Hand auf den Arm.
Er starrte
sie an. Dieser Blick schien endlich bei ihr anzukommen.
»Seid ihr
denn – bist du denn wirklich traurig darüber?«, fragte sie verwirrt.
»Ja, Mutter,
wir sind alle sehr traurig, auch wenn du das nie verstehen wirst.«
Es gab nichts
mehr zu sagen. Stefan stand auf und ging. Auf dem Heimweg fühlte er sich seltsamerweise
ein bisschen erleichtert. Er dachte nicht mehr an seine Mutter. Ich werde mit Lotte
reden heute Abend, nahm er sich vor. Ich werde alles versuchen, sie wieder zum Sprechen
zu bringen. Wir müssen weiterleben, wir alle, und wir können nicht erst in einem
Monat oder in einem halben Jahr damit anfangen.
Greta Attinger
ging ruhelos von Zimmer zu Zimmer. Was soll ich bloß tun?, dachte sie. Hätte ich
Stefan von Peter erzählen sollen? Nein, und jetzt ohnehin nicht. Peter wäre jetzt
Mitte dreißig, ein einarmiger Mann, der trotz der operierten Hasenscharte entstellt
aussähe. Das mit Luzia war in jeder Hinsicht viel schlimmer als das damals mit Peter.
Wie wird es ausgehen? Lotte wird ihre kleine Schwester vergessen. Sie ist zwar schon
viereinhalb, aber Kinder in diesem Alter vergessen rasch, und das ist auch gut so.
Die ganze Familie sollte Luzia vergessen, der Fall sollte ungeklärt zu den Akten
gelegt werden, das wäre das Beste. Wem würde die Wahrheit nützen? Niemandem. Es
ist vollkommen gleichgültig, wer das Baby getötet hat. Die Familie muss weiterleben,
Lotte muss glücklich und unbeschwert aufwachsen können.
Lotte war auf dem Sofa eingeschlafen.
Als Nadine es bemerkte, schaltete sie den Ton des Fernsehers aus. Sie blieb sitzen
und starrte auf den stummen Bildschirm, auf dem sich Rehe, Hasen und ein kleines
Mädchen bewegten. Als wir Luzia noch hatten, dachte ich, ich lebte in einem Alptraum,
ging es ihr durch den Kopf. Dabei weiß ich erst jetzt, was das ist. Sie strich ihrer
Tochter über die Locken, und die Kleine seufzte im Schlaf tief auf.
Nadine fuhr
auf. Offenbar war sie auch eingenickt. Es war fast sechs Uhr. Lotte schlief noch.
Würde Stefan bald kommen? Sie suchte ihr Handy. Ja, da war eine Nachricht von Stefan,
er war vor über einer Stunde in St. Gallen losgefahren. Wie der Besuch wohl verlaufen
war? Nadine ging in die Küche. Sie schnitt Brot, nahm Käse und Schinken aus dem
Kühlschrank, setzte Wasser auf, um ein
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