Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
hineingeschaut, habe
das Kind herausgehoben, bin mit ihm die paar Meter zum Ufer gegangen und habe es
hineinfallen lassen. Und jetzt bringen Sie mich in meine Zelle, ich habe nichts
mehr beizufügen.«
»Hatten
Sie das geplant? Sind Sie in dieser Absicht nach Zürich gefahren?«, fragte Elmer.
»Nein. Ich
kam, um mit meiner Schwiegertochter zu reden. Aber ich hatte von Anfang an gedacht,
dass es das Beste wäre, wenn das Kind sterben würde. Als ich dann vor ihm stand,
weit und breit niemand zu sehen, wusste ich auf einmal, was zu tun war. Es war die
einzige Chance für die Familie. Ich bin eine alte Frau, auf mich kommt es nicht
mehr an.«
Mehr war
aus ihr nicht herauszubringen.
»Wir müssen
die Familie informieren«, sagte Streiff, »mach du das. Ich übernehme die Medienmitteilung.«
Nadine kam alles ganz unwirklich
vor. Die Küche, in der sie stand, der Rasen, der Baum, das Haus gegenüber, das sie
durchs Fenster sah, die Stimme von Leon, der mit Lotte einen kleinen Koffer packte,
ihr Mann, der hinter ihr stand und sie umfasst hielt. Vor einer halben Stunde hatte
die Polizistin angerufen und ihnen mitgeteilt, dass Greta Attinger gestanden hatte,
Luzia getötet zu haben. Gleich darauf war Leon gekommen. Stefan hatte Nadine eine
Tablette gegeben, nun spürte sie nichts, keine Angst, keinen Schmerz, keine Verzweiflung,
da war nur dieses Gefühl von Unwirklichkeit, das Wissen, dass alles zerstört war,
was ihr Leben ausgemacht hatte, und es war ihr ganz gleichgültig. Sie nahm wahr,
dass Stefan bebte, er weinte tonlos. Er war ihr ganz fremd. Er hatte es Leon gesagt,
sie waren eine Weile in der Küche gesessen und hatten von Greta geredet, wie es
weitergehen würde mit Untersuchungshaft und Prozess und möglichem Strafmaß, als
ob es sich um eine entfernte Bekannte handeln würde. Dann war Leon zu Lotte gegangen.
»Pack die Turnschuhe ein«, hörte Nadine ihn zu der Kleinen sagen, »und den kleinen
Rucksack, wir werden einen Ausflug in den Wald machen und Würste braten. Und dann
brauchen wir noch deine Zahnbürste. Was möchtest du für Spielsachen mitnehmen? Soll
ich für dich aussuchen?«
Er kam in
die Küche. Auch er wirkte mitgenommen. »Wir sind fertig«, sagte er, »aber kann man
euch beide allein lassen? Ihr braucht doch jetzt Hilfe. Vielleicht solltet ihr doch
diesen Polizeipsychologen anrufen. Er könnte euch etwas Unterstützung geben.«
»Ja, vielleicht
werden wir das tun«, sagte Stefan. »Es ist gut, dass Lotti zu dir kommen kann.«
Leon parkierte den Wagen in der
Tiefgarage, löste den Gurt vom Kindersitz und hob Lotte heraus. Vom Rücksitz fischte
er ihren Koffer, nahm das Mädchen bei der Hand und ging mit ihr in die Wohnung.
Er redete mit ihr und tat so, als falle es ihm nicht auf, dass sie kein Wort sagte.
Benja tänzelte heran. Lotte streichelte sie, sagte aber nichts.
»Ich mache
dir eine kalte Schokolade, okay, oder möchtest du lieber einen Sirup? Und ich habe
Hörnchen besorgt, die isst du doch gern.«
Lotte hatte
es immer toll gefunden, dass sie bei Leon abends ihre Spielsachen nicht so ordentlich
verräumen musste wie zu Hause. Sie schlief im Gästezimmer in einem riesigen Bett,
in dem auch jede Menge Plüschtiere und Puppen Platz hatten, während bei Mama und
Papa nur Mischa in ihrem Bett schlafen durfte. Ihr Lieblingsplatz war ein Schaukelstuhl,
in den sie sich gern verkroch, und Leon musste sie sanft schaukeln, weil sie zu
klein war, um den Stuhl selbst in Bewegung zu halten.
Jetzt saß
sie in der Küche, stumm, am leicht klebrigen Tisch und knabberte an einem Hörnchen,
während Leon ihr ein Glas mit Schokoladenmilch und eines mit Sirup hinhielt. »Welches
möchtest du?«
Sie deutete
auf die Schokolade. Leon schüttelte den Kopf und schloss die Augen. »Ich bin blind,
ich kann nur hören.«
Pause. Dann
flüsterte die Kleine: »Schoko.«
Leon öffnete
die Augen und stellte ihr das Milchglas hin. »Bitte, Prinzessin.«
»Danke«,
auch das kam ganz leise, fast gehaucht, aber es war immerhin ein Wort. Schon das
zweite, wie Leon zufrieden feststellte. Für sich selbst machte er einen Kaffee.
Anschließend
ging Lotte ins Wohnzimmer und kletterte auf den Schaukelstuhl. »Nichts da«, protestierte
Leon, »bei diesem schönen Wetter gehen wir raus. Wir können mit dem Ball spielen
oder im Sandkasten.«
»Sandkasten«,
willigte sie ein.
Er häufte
Sand zu einem hohen Berg auf und grub einen Tunnel hindurch. Lotte half nicht viel
mit, aber sie beobachtete seine Arbeit.
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