Katzendaemmerung
Mutter durch. Gerade für ihre Tochter habe die Reise eine besondere Bedeutung, so versicherte sie meinem Onkel. (Das Paar hat sich dazu entschlossen, das Kind halb nach anglikanischer und halb nach koptischer Lehre im christlichen Glauben zu erziehen.) Ein besonders wichtiges koptisches Ritual könne ihre Tochter dabei angeblich nur in der Heimat ihrer Mutter erfahren. Um was es sich dabei genau handelt, wollte Attiya aber selbst ihrem Mann nicht sagen. Sie deutete nur so viel an, dass es um eine geheime Zeremonie gehe, die nur die weiblichen Mitglieder der ›Gemeinschaft der Bubasiten‹ beträfe.
Eine Beschneidung kann es glücklicherweise nicht sein, denn es sind nur die islamischen Gruppierungen, die auch heute noch diesen barbarischen Ritus bei kleinen Mädchen praktizieren.
So kommt es also, dass ich die gesamte Familie Peacham nach Ägypten begleite: Onkel Norm, Mrs. Attiya und ihr kleines Töchterchen Damiyat. Die Kleine ist zwar erst wenig älter als zwei Jahre, aber jetzt schon ein richtiger Wildfang. Keinen Augenblick darf man sie aus den Augen lassen. Neugierig, wie sie ist, läuft, kriecht, krabbelt sie unter jeden Tisch, in jede offene Truhe, durch jedes Gebüsch oder was auch immer ihr Interesse wecken mag. Wie es scheint, hat sie den Forscherdrang ihres Vaters geerbt. Und dabei hat sie schon jetzt die Grazie einer Prinzessin – ein unbestreitbares Erbe ihrer höchst attraktiven Mutter. Lustigerweise ruft mein Onkel sie stets bei ihrem Zweitnamen: Natascha. Eine russische Großtante aus dem weitverzweigten Peacham-Clan soll diesen Namen getragen haben …
Bei der Nennung dieses Namens fiel mir vor Schreck beinahe die Kladde aus der Hand. Natascha? Aber das war doch unmöglich. Die Natascha, die ich kannte, war in den 1960er oder ‘70er Jahren geboren worden, nicht aber 1889! Was erzählte dieser Julius da nur für einen Blödsinn.
Das unscheinbare, fleckige Notizbuch blieb stumm. Durch meinen heftigen Ruck war an einer Stelle ein altes Lesezeichen halb aus den Seiten gerutscht. Ich zog an der Ecke und sah nun, dass es sich um eine Fotografie handelte. Eine gelblich lila verfärbte Aufnahme einer Personengruppe. Sie zeigte ein Paar – der Mann in schwarzem Anzug und Zylinder, besonders markant war sein gezwirbelter Schnurbart, die Frau, deutlich jünger, etwa Mitte/Ende Zwanzig, in einem langen schwarzen Rock, einer weißen gerüschten Bluse, schwarzer Weste und einem breitkrempigen schwarzen Hut. Zwischen den beiden stand ein kleines Mädchen in einem hellen Kleidchen und einem Stroh-Sonnenhut. Etwa einen Meter neben der Familie erkannte ich einen weiteren Mann, der vom Alter her der jüngere Bruder der Frau hätte sein können. Auch er trug einen dunklen Anzug; seinen Bowler hatte er sich vorwitzig schief wie ein Barett aufgesetzt. Im Hintergrund erahnte man die verwischte Silhouette einer mediterranen Stadt.
In atemlosem Staunen wanderte mein Blick von einem Gesicht zum anderen; über den beherrschten, etwas steifen Ausdruck des älteren Mannes, die schönen, ebenmäßigen Züge seiner jungen Frau, die der Kamera nur ein winziges Lächeln schenkte … und die seltsam ausdrucksstarken Augen der kleinen Tochter. Ähnlich wie auch ihr Vater blickte sie den Betrachter beinahe schon verkniffen ernst an. Der Einzige, der ein offenes Grinsen aufgesetzt hatte, war der junge Mann.
Ein beunruhigendes déja-vu-Gefühl überzog meine Arme mit einer Gänsehaut. Es war unmöglich, und doch kannte ich diese fremden Menschen. Irgendwann hatte ich sie schon einmal gesehen. – Und wann?, fragte ich mich. Etwa in einem deiner früheren Leben?
Plötzlich gab es in meinem Kopf ein beinahe schon hörbares Klick-Geräusch. Ich sprang auf und rannte geradewegs in Mias Büro. Es dauerte nicht lange, bis ich das Gesuchte gefunden hatte.
Wieder zurück in meinem Zimmer, legte ich das gerahmte Bild, das ich von der Wand genommen hatte, neben die vergilbte Aufnahme.
Tatsächlich! Ich hatte mich nicht getäuscht; abgesehen von den beiden Fellachen, zeigte Mias Bild genau dieselben Menschen. Allerdings war auf meinem Foto noch eine weitere Person zu erkennen. Die kleine Damiyat. ›Natascha‹, wie sie auch genannt wurde. Wieder verlor ich mich in den dunklen Augen des Kindes. Konnte es sein …? , dachte ich.
Schwarze Sterne.
Ich schüttelte energisch den Kopf. »Dreh’ jetzt nur nicht vollkommen durch«, murmelte ich. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich ja selbst in Attiyas Zügen meine Natascha
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