Katzenhöhle
legte, es sich doch noch zu überlegen, sagte sie zu. Ich brauchte dringend Hilfe, erstickte förmlich in Arbeit: lauter unerledigte Aufträge, jeder brandeilig, dann noch der Umzug im Büro, überall nur Kisten. Und ständig ruft einer an, der irgendwas wissen will.«
»Mag sein. Aber ich finde es wirklich erstaunlich, wie immer wieder jemand in Lenas Nähe ganz überraschend eines gewaltsamen Todes stirbt.«
Was für eine dilettantische Aussage. Wie kam sie bloß dazu, in Gegenwart eines Zeugen so etwas Dummes zu sagen, noch dazu bei diesem? Er mochte Lena – und nicht nur das. Leicht hätte er sie warnen können. Das musste an dem Wein liegen, allmählich stieg er Lilian doch zu Kopf. Kein Wunder, auch das zweite Glas war schon fast leer.
»Was für ein Blödsinn!« Auf einmal sah er richtig wütend aus. »Jetzt fangen Sie auch noch mit Lenas Schwester an. Haben Sie eigentlich schon mal daran gedacht, dass es gar nicht um diese Balletttänzerin ging – sondern um Lena?«
»Natürlich. Immerhin gehört es zu meinem Job, so was zu denken.«
Der Sessel wurde noch weicher. Es wäre schön, sich ihm ganz anzuvertrauen, die erschöpften Glieder noch mehr auszustrecken, alles zu vergessen. Diesen verzwickten Fall und die anstrengenden Nachforschungen, sogar am Sonntag bis spät abends. Außerdem David, der immer noch nichts von sich hatte hören lassen, vielleicht sogar ihren Vater, der nach acht Jahren einfach so angerufen hatte. Lilian fielen die Augen zu. Doch nur einen Moment lang, schon war sie wieder wach.
»Das ist doch zu pathetisch«, sagte sie ungeduldig. »Das nimmt ihr sowieso keiner ab, ich auf jeden Fall nicht. Gesehen wurde auch niemand. In einer Tiefgarage, also wirklich!«
Ihre eigenen Worte schienen von weit her zu kommen, als hätte sie ein anderer ausgesprochen. Auch ihre Zunge fühlte sich schwer an.
»Wovon reden Sie eigentlich, Frau Kommissarin?«
Julian Herzog blieb vor ihr stehen. Wie durch einen Nebel nahm sie ihn wahr, er kam ihr vor wie eine schemenhafte Gestalt, grau wie Blei, als käme er aus einer anderen Zeit. Hatte sie nicht heute schon einmal das Gefühl gehabt, in eine andere Welt einzutreten? Wann war das nur gewesen? Ein warmer Hauch streifte sie, hatte er ihr eben über die Stirn gestrichen? Lilian war sich nicht sicher. Aber wenn er das getan hatte, dann war es eine angenehme Berührung gewesen.
»Der Wein ist stark, Sie sollten nicht so viel davon trinken. Und Auto fahren können Sie jetzt auch nicht mehr. Soll ich Sie nach Hause bringen?«
Sie wollte nicht nach Hause. Sie wollte nur zwischen diesen bequemen Polstern liegen, nichts denken müssen und seiner ruhigen Stimme zuhören. Sie wollte schlafen, nur das …
Lilians Handy klingelte.
Sollte sie es läuten lassen? Aber es war so laut. Warum hörte es nicht auf? Sie hatte keine Lust zum Reden, sie hatte zu viel getrunken, sie fühlte sich ausgelaugt …
Es klingelte in einem fort.
Mühselig setzte sie sich auf. Wer war das bloß? Egal, den würde sie schon abwimmeln.
»Hallo?«
David meldete sich.
»Was willst du?«
»Mich entschuldigen.«
»Reichlich spät.«
»Ich weiß. Wo bist du?«
»Bei einem Zeugen.«
»Heute ist doch Sonntag.«
»Gerade da macht jeder das, was ihm passt. Der eine verschwindet sang- und klanglos und ruft nicht mal an, der andere schuftet bis zum Umfallen.«
»Und ich Idiot dachte, du hättest dir vielleicht Sorgen um mich gemacht.«
»Hab ich auch.«
Früher hätte sie sich eher die Zunge abgebissen, als so etwas zu sagen. Also war sie doch gereift. Oder lag es nur daran, dass sie ihre Zunge kaum mehr spürte?
»Ich muss dich unbedingt sehen, Lilian. Komm bitte.«
»Ich kann nicht.«
»Warum?«
»Ich bin müde – und betrunken.«
»Ich dachte, du bist bei einer Vernehmung.«
»Bin ich auch.«
Schweigen. »Wo bist du genau?«
Sie nannte ihm die Adresse. Zehn Minuten später war er da.
18
Einen Notar hatte sich Lena anders vorgestellt: würdevoll, im schwarzen oder zumindest dunkelblauen Anzug, mit sonorer Stimme. Doch dieser junge Kerl ohne Krawatte, dafür mit langen Haaren und Lederarmband hatte seine Arbeit trotzdem gut gemacht. Alles hatte er ihnen erklärt. Jeder wusste, was er von Mira geerbt hatte. Die Eltern bekamen das Appartement in London, Lena die Lebensversicherung und Miras Kleidung. Und Billy ihren Schmuck – sogar an den lange vergessenen Freund hatte Mira gedacht. Ob sie mit ihren Klunkern die bösen Worte wieder gutmachen wollte, die er sich von
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