Katzenhöhle
noch, wie sie mir erzählte, sie würde bald wegziehen, ganz fröhlich war sie. Eine Wohnung habe sie schon, sagte sie, und eine Arbeitsstelle würde sich auch noch finden.«
»Wohin wollte sie ziehen?«
»Das weiß ich nicht. Aber sie wirkte nicht wie jemand, der vor lauter Unglück nicht mehr weiß, wie er weitermachen soll. Doch drei Tage später setzt sie sich in ihr Auto und bringt sich um, einfach so. Obwohl das mit ihrem Freund schon so lange her gewesen sein muss, dass sie genug Zeit hatte, um sich eine neue Wohnung zu suchen.« Sie verstummte, nahm ihren Löffel und rührte gedankenverloren in ihrer Teetasse um. »Ich mache mir die schrecklichsten Vorwürfe, weil ich damals nicht zur Polizei gegangen bin. Allerdings dachte ich, die würde ohnehin bald kommen. Dann hätte ich alle meine Bedenken loswerden können.«
Aber die Polizei war nicht gekommen – erst heute.
»Ich frage mich«, sagte Lilian langsam, »was in diesen drei Tagen passiert ist.«
Endlich trank die alte Dame einen großen Schluck Tee. »Das Gleiche habe ich mich auch gefragt.«
Sie diskutierten noch eine Weile. Als Lilian die Ärztin schließlich zum Holzholen begleitete, bemerkte sie auf einmal etwas, was sie vorher übersehen hatte: Zwischen den Schneeresten spitzten die ersten Schneeglöckchen hervor.
Im Computer fand Lilian nicht mehr als die spärlichen Informationen, die sie schon kannte. Sie brauchte unbedingt die Originalunterlagen. Also rief sie den zuständigen Kollegen an, der die Untersuchung von Gisela Dormanns Tod geleitet hatte. Natürlich war der nicht zu erreichen, es war schließlich immer noch Sonntag. So fuhr sie kurzerhand bei Julian Herzog vorbei. Als ihr früherer Chef wusste er vielleicht mehr über die Verstorbene.
Das Garagentor war abgesperrt, und bei allen Fenstern im Obergeschoss des Zweifamilienhauses waren die Rollos heruntergelassen. Lilian läutete, nichts regte sich. Ob der Hausherr wieder einen Spaziergang machte, diesmal im Dunkeln? Noch einmal drückte sie auf den Klingelknopf. Endlich ging die Tür auf, und Julian Herzog erschien, heute in einem grauen Jogginganzug. Grau schien seine bevorzugte Farbe zu sein. Er sagte nichts, schaute Lilian nur an, als rätselte er, was diese fremde Frau zu so später Stunde von ihm wollte. An seinen Augen sah sie aber, dass er sie erkannt hatte. Trotzdem zückte sie ihren Ausweis. Als sie das Haus betrat, überlegte sie, warum sie das getan hatte. Vielleicht, um ihrem Erscheinen einen gewichtigen Eindruck zu verleihen? Aber warum sollte das nötig sein?
Julian Herzog führte sie in seine Wohnung im Erdgeschoss. Oben, so sagte er, lebe ein Dinky-Paar: er Apotheker und seit Jahren sein Unter- bzw. Obermieter, sie Architektin und gerade erst eingezogen, beide frisch verliebt und zurzeit an einem sonnigen Strand in der Südsee. Während Lilian in ihren Englischkenntnissen kramte und zu dem Schluss kam, dass die englische Bezeichnung ›double income no kids yet‹ heißen musste, entkorkte ihr Gastgeber eine Flasche Wein.
»Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten – oder sind Sie dienstlich hier?« Sein Lächeln war sanft.
Wieder eines dieser Angebote, das sie nicht ablehnen konnte. Lilian nahm das Glas, murmelte ein »Dankeschön« und setzte sich unaufgefordert. Nach diesem langen Tag war sie müde. Sofort versank sie so tief in dem Polstersessel, dass sie kaum mehr das Glas halten konnte. Als sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte, war sie überrascht, wie wohl sie sich fühlte. Geborgen und sicher, eingebettet in weiche Kissen, die sie fast dazu verleiteten, einfach die Augen zu schließen und einzuschlafen.
»Das ist ein guter Wein, ein Sangiovese aus der Toskana.« Er hielt das Glas gegen das Licht. »Tiefrote Farbe, eine gehaltvolle Traube, hat gerade lange genug gereift. Man glaubt fast, man könne die Weinberge vor sich sehen, wo die Reben gewachsen sind.« Er nippte nur von seinem Glas, als müsste er mit einem solchen Hochgenuss sparsam umgehen. »Exzellent, nicht?«
Auch Lilian trank. Selten hatte sie etwas so Erlesenes gekostet. Ob der Wein auf dem Weingut ihres Vaters auch so gut schmeckte?
»Teuer?«
Warum fragte sie das bloß – weil sie vom Thema Toskana ablenken wollte?
Er antwortete nicht, als würde er sich mit solchen Trivialitäten nicht befassen, und strich sich über die Augen. Sie waren gerötet. Offenbar plagte ihn wieder seine Bindehautentzündung.
»Was wollen Sie wissen?«
»Es geht um Ihre frühere Mitarbeiterin
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