Katzenhöhle
einmal der Sektkorken knallte, sanft löste er sich aus der Flasche. Ein feines Glucksen, als Julian zwei Gläser füllte, ein leises Klirren, als sie anstießen, ein zartes Prickeln, als Lena trank.
»Auf dich, Lena. Auf deine Zukunft.«
Julian hatte kaum gekostet, doch Lenas Glas war schon leer. Das tat gut, genau das brauchte sie jetzt. Der Alkohol löste ihre Anspannung. Auf einmal verstand sie, wie Mira so oft diese Zuflucht gesucht hatte. Sie hielt Julian das Glas hin, er schenkte nach. In einem einzigen Zug trank sie es aus. Ihr Kopf war klar, ihre Sinne geschärft, nur ein wenig müde fühlte sie sich. Sie setzte sich.
Es raschelte. Julian hatte ein Blatt Papier und einen Stift hervorgeholt.
»Du musst mir einen Gefallen tun, Lena. Schreibst du einen Brief für mich?«
»Denkst du immer nur an die Arbeit?«
Sie fing an zu lachen. Ein hysterisches Geräusch kam aus ihrem Mund. Erstaunt hielt sie inne. Offenbar hatte auch ihre Stimme die vergangene halbe Stunde nur mit Anstrengung überstanden. Sie räusperte sich.
»Mach ich gerne. Was für ein Brief soll’s denn werden?«
»Ein Abschiedsbrief.«
Ohne nachzudenken, kehrte Lilian um. Sie war nicht weit von dem Haus, wo Lena wohnte. Nur die Straße hoch, die sie eben gelaufen war, dann links in die Alfons-Bayer-Straße, den Fußweg entlang bis zum Roter-Brach-Weg, schon wäre sie in der Nähe des Gebäudekomplexes, zu dem sie wollte. Sie musste sich beeilen, denn im Allgemeinen pflegten Mörder nicht lange zu warten. Nachdem der Anschlag auf Lenas Leben in der Tiefgarage schief gegangen war, war der Täter zu einer zermürbenden Tatenlosigkeit verdammt worden. Lena wurde ständig verhört und war so kaum greifbar. Und es noch mal im Hotel zu versuchen, hätte sich als zu dreist erwiesen. Heute war sie ebenfalls kaum alleine gewesen, zuerst bei der Testamentsverkündung in München, dann in der Arbeit und schließlich bei der Schlüsselübergabe. Jetzt war alles ruhig, Lena allein zu Hause, eine bessere Gelegenheit würde sich nicht bieten.
Lilian rannte, so schnell sie konnte. Fluchend fummelte sie das Handy aus der Tasche, sie musste Helmut anrufen oder sonst wen. Die Videoüberwachungsanlage half ihr nichts. Die Kameras zeichneten nur auf, niemand beaufsichtigte sie persönlich. Wer immer es auf Lena abgesehen hatte, konnte sich schon in ihrer Wohnung befinden. Lilian versuchte, Helmuts Kurzwahl einzugeben. Sie vertippte sich, hektisch probierte sie es von neuem. Auf einmal stolperte sie, das Telefon fiel zu Boden. Scheiße, verdammte, das durfte doch nicht wahr sein! Sie bückte sich. Da lag die ganze Pracht vor ihr: Akku, Gehäuse in zwei Teilen, eine Leiterplatte oder was das auch immer war. Auch wenn sie kein Dinosaurier in allen technischen Dingen gewesen wäre, hätte sie jetzt nicht die Kaltblütigkeit besessen, das Telefon wieder zusammenzustöpseln. Denn die Zeit verrann noch schneller als sonst.
Sie ließ das Handy liegen, hastete weiter, bog in den Fußweg am Ende der Straße ein. Die Lunge tat ihr weh, ihr Atem war völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Aber es war nicht mehr weit, sie musste durchhalten. Jetzt würde sich zeigen, ob das tägliche Training ihr auch berufliche Dienste erweisen würde. Gleichzeitig überlegte sie fieberhaft. Was hatte sie übersehen? Hatte sie sich so in Gisela Dormanns Freitod verbissen, dass sie einen Mord aufdecken wollte, wo es keinen gab? Dafür hatte sie andere Ermittlungen nicht sorgfältig genug geführt. Nicht nur die überfällige Befragung von Larissa und Cedric – sie wusste auch nicht, wo Billy sich aufgehalten hatte, als Lena in der Tiefgarage überfallen worden war.
Jetzt war sie an der Ecke, wo der Pfad in den Roter-Brach-Weg einmündete. Nur noch ein paar Meter, dann um die Kurve und danach … Was war denn das? Sie blinzelte, zwickte die Augen zusammen, blinzelte noch mal. Ein Mann stieg gerade in ein Auto. Ein Mann in einem Regenmantel. Seine langen Haare schimmerten im Schein eines vorbeifahrenden Wagens. Sie überlegte keine Sekunde und zog ihre Waffe.
Er küsste sie. Seine Lippen waren weich und sanft. Am liebsten hätte Lena ihn weggestoßen, doch sie konnte sich nicht wehren. Auch bei dem Brief war sie machtlos gewesen. Sie hatte schreiben müssen, was er ihr diktierte: ihr eigenes Todesurteil.
»Das ist Rohypnol«, erklärte Julian bereitwillig. »Ein Schlafmittel, das den eigenen Willen ausschaltet. Bei der Dosis, die im Sekt war, könntest du dich morgen an nichts mehr
Weitere Kostenlose Bücher