Katzenhöhle
erinnern. Du wärst zwar ein wenig müde und würdest vielleicht zu spät zur Arbeit kommen, weil du verschlafen hättest.« Er küsste sie noch einmal. »Aber das wird dir nicht passieren. Leider bist du morgen tot.«
Sie spürte, wie er sie stützte und langsam ins Schlafzimmer führte. Sie war wie gelähmt, fühlte sich wie eine Schlafwandlerin. Alles um sich konnte sie wahrnehmen und verstehen, aber obwohl das Grauen nicht mehr von ihrer Seite wich, war sie nicht fähig, auch nur das Geringste dagegen zu unternehmen.
»Diese lästige Polizistin war gestern Abend bei mir«, fuhr Julian fort. »In ihren Wein hab ich eine andere Dosierung hinein gegeben, fast wäre sie eingeschlafen. Ich musste auf Nummer Sicher gehen, denn ich wusste ja nicht, ob sie das mit Gisela herausgefunden hatte. Ihr Kollege hatte mich deshalb schon angerufen. Aber stell dir vor, die Idioten haben dich im Verdacht, die gute Gisela ins Jenseits befördert zu haben.«
Er lachte amüsiert. Alle Behutsamkeit war aus seinem Lachen verschwunden, jetzt klang es kalt und überlegen.
Lena wollte etwas sagen, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Nur ein Krächzen kam über ihre Lippen. Warum, wollte sie ihm ins Gesicht schleudern, warum bist du so eine Bestie?
Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er: »Gisela hat zu viel herumgeschnüffelt. Damals vor fünf Jahren hab ich noch viele Aufträge persönlich abgewickelt, unter anderem eine Lieferung für alle möglichen Laborgeräte. Es war ein Riesenauftrag mit acht Colli, der ging nach Singapur und von dort weiter in ein anderes Land, ich wollte gar nicht wissen, wohin. Eigentlich hätte man eine Genehmigung vom Bundesausfuhramt einholen müssen. Ich wusste nur so viel, dass der Auftrag in einem Chemieinstitut landen würde, wo man auch Versuche für Giftgasanlagen durchführte. Im Prinzip hätte ich die Finger davon lassen müssen, aber das konnte ich mir nicht leisten. Ich musste mein Umsatz-Soll erfüllen, sonst hätte mich der damalige Geschäftsführer abgesägt. Also hab ich den Auftrag als Ersatzteillieferung laufen lassen und gehofft, dass es niemand merkt.«
Lena wankte. Ihre Füße machten, was sie wollten. Doch Julian reagierte sofort und hielt sie fest umschlungen. Fast hätte man glauben können, sie seien ein Liebespaar.
»In dieser Firma hab ich es immer schwer gehabt, du hast es ja selber miterlebt. Dauernd einer da, der darauf giert, dass man einen Fehler macht. Je höher man hinaufklettert auf der Ruhm- und Prestigeleiter, umso schwieriger wird es. Die Geier warten nicht einmal so lange, bis man tot unten liegt, die fangen vorher schon mit ihrem blutigen Geschäft an.«
Mühsam drehte sie den Kopf zu ihm. Es war eine irrsinnige Anstrengung, aber sie schaffte es schließlich. Seine Augen waren rot, er hätte die Tropfen benötigt. Doch er hatte keine Hand frei, um das Plastikfläschchen aus seiner Jackentasche zu ziehen und die Medizin in die Augen zu träufeln. Und bestimmt dachte er jetzt an Wichtigeres.
»Aber so leicht mache ich es denen nicht, ich nicht! Ich will nicht auf all das verzichten, was ich mir mühevoll aufgebaut habe. Es ist schön, ein wenig Luxus um sich zu haben, ein wenig Sicherheit. Alles andere ist noch vergänglicher.«
Sie dachte an den Großonkel, der den kleinen Julian zu einem anständigen Menschen hatte erziehen wollen, und an den Jungen selbst, der weder die Achtung des alten Mannes noch die Liebe der verschwundenen Mutter hatte erringen können. Auch an die Mutter dachte sie – ob sie ihr Glück gefunden hatte? Wie oft sie wohl nachts wachgelegen und sich gefragt hatte, was aus ihrem kleinen Sohn geworden war?
Wieder taumelte Lena, wieder fing Julian sie auf. Warum machte sie sich bloß so viele Gedanken um ihn, ausgerechnet? Sie sollte sich eher mit ihrem eigenen Schicksal befassen.
»Ich hatte diesen Auftrag in meinen Schreibtisch eingeschlossen.« Er stöhnte. »Ich hätte ihn gleich vernichten sollen. Aber ich wollte etwas in der Hand haben, falls es noch Reklamationen gab, denn im Computer hatte ich ihn ohnehin schon gelöscht. Dann war der Umzug aus unserem alten Büro in die neuen Räume, und Gisela räumte alles aus. Dabei muss sie irgendwie auf diese verdammte Mappe gestoßen sein – und da wurde sie stutzig. Sie fragte mich, was das für ein komischer Auftrag sei, den kenne sie gar nicht. Warum müssen Frauen bloß so neugierig sein?«
Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Sie knickte ein. Als er sie hochzog, war sein
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