Katzenmond
siehst du denn nicht, was das bedeutet? Du musst jetzt selbst die Starke sein. Stark sein für dich – nicht für irgendjemand anderen, nur für dich. Und das hast du schon geschafft, es ist dir nur noch nicht bewusst. Weißt du überhaupt, wie stark du bist? Wie unglaublich stolz ich auf dich bin?«
Ich blickte in sein Gesicht. Seine Augen waren uralt. Und ich konnte einen Hauch von Herbstfeuern in seiner Aura riechen, einen tröstlichen, wunderbaren Duft.
»Danke.« Ich seufzte tief. »Ich weiß, dass ich schon stärker geworden bin. Dass ich erwachsen werde, und ich freue mich sogar darüber. Aber … es ist nur …«
»Nur was?«
Ich holte tief Luft und schüttelte schließlich den Kopf. »Nichts. Ich komme nur mit Veränderungen nicht gut klar.« Ich zuckte mit den Schultern und hüstelte den Rotz aus meiner Kehle. »Ich bin eine Katze. Du weißt doch, dass wir es schlecht vertragen, wenn die gewohnte Routine durcheinandergebracht wird.« Als ich mir die Tränen wegwischen wollte, fing er meine Hand ab, führte sie an die Lippen und küsste sie zärtlich.
»Psst – nein, nein, geh nicht einfach so darüber hinweg. Du sollst deine Gefühle nicht kleinmachen. Erzähl mir alles.«
Ich schloss kurz die Augen. Herausmogeln konnte ich mich nicht – das hatte ich inzwischen über Shade gelernt. Wenn er etwas wissen wollte, gab er nicht auf, bis er alles herausgefunden hatte. Er verlieh dem Wort »Beharrlichkeit« eine völlig neue Bedeutung.
Ich suchte nach den richtigen Worten, den richtigen Bildern, und seufzte schließlich tief. »Also gut. Gestern Abend in der Bar standen wir oben auf der Bühne und haben für Iris Karaoke gesungen. Das war lustig, aber bei
We Are Family
hat es mich erwischt. Mir wird erst jetzt im Nachhinein klar, wie sehr mich das deprimiert hat. Aber dann hat Iris sich übergeben, und der Stripper war sauer, und wir wurden praktisch rausgeworfen. Also habe ich das beiseitegeschoben. Bis wir dann zu Hause ankamen und Chase angerufen hat, konnte es mit meinen Gefühlen nur noch abwärtsgehen.«
»Warum hat der Song dich so deprimiert? So schlecht singst du doch gar nicht.« Ich wusste, dass er mich nur aufzog, um mir ein Lächeln zu entlocken.
Ich zuckte wieder mit den Schultern und wollte nicht einmal mir selbst die Wahrheit eingestehen. Doch die Worte entwickelten ein Eigenleben und platzten auf einmal aus mir heraus.
»Sind wir
wirklich
noch eine Familie? Ja, wir haben uns alle lieb und sind füreinander da, und ich freue mich darüber, dass wir alle unsere Nische im Leben finden, aber, verdammt … wir waren uns mal so nah. So eng verbunden. Und jetzt können wir uns glücklich schätzen, wenn wir mal alle zusammen zu Abend essen. Wir haben kaum noch Zeit, einfach herumzusitzen und zu reden. Wenn wir ins Kino oder shoppen gehen wollen, müssen wir einen Termin machen – früher sind wir einfach losgezogen, wenn uns danach war. Ich finde es grässlich, dass sich alles so schnell verändert.«
Noch während ich sprach, stieg mir die Röte ins Gesicht. »Ich will mich nicht anhören wie ein kleines Mädchen, das an den Rockzipfeln seiner Schwestern hängt. So bin ich nicht mehr, aber verdammt noch mal, mir fehlen die Zeiten, als wir noch beim AND waren, Vater uns alle lieb hatte. Bevor Menolly zur Vampirin gemacht wurde. Bevor … bevor …«
»Bevor ihr in die Erdwelt gekommen seid?« Shade zuckte nicht mit der Wimper oder rückte von mir ab.
Ich kam mir peinlich egoistisch vor und nickte. »Ja. Ehe wir in die Erdwelt kamen. Es ist, als hätte sich alles verändert, sobald wir hier herübergeschickt wurden. Die ersten Geistsiegel tauchten auf. Dämonen hämmern auf einmal an die Tore. Camille hat geheiratet – gleich dreimal. Menolly hat eine feste Freundin gefunden und ist ständig zu irgendwelchen Vampirpartys eingeladen. Wir haben Iris kennengelernt, und jetzt heiratet
sie
auch. Ich weiß, das klingt kindisch, aber wer wird mich jetzt daran erinnern, endlich mein Katzenklo sauber zu machen? Ich brauche so was. Ich brauche … eine Mutter. Und bisher hat Camille diese Stelle ausgefüllt, während Menolly diejenige war, die mich immer wieder dazu gebracht hat, etwas Neues auszuprobieren.«
Da lachte Shade, ein tiefes, honig-sattes Lachen, das durch meinen ganzen Körper vibrierte. »Süße, du brauchst keine Mutter, die dich an so etwas erinnert. Du brauchst einen persönlichen Assistenten. Ich kann das tun. Ich werde dich daran erinnern, dein Katzenklo sauber zu
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