Katzenmond
Sie stand auf. »Dann ziehen wir uns wohl besser an. Ich hoffe sehr, dass wir uns irren. Es wäre bitter, wenn er die ganze Zeit über ein falsches Spiel mit uns getrieben hätte.« Sie gähnte. »Ich wüsste wirklich gern, warum so etwas nicht passieren kann, wenn wir etwas ausgeschlafener sind. Eine Stunde reicht einfach nicht.«
Die Vorstellung, Wilbur könnte uns verraten haben, war schmerzlich. Er war kein besonders guter Freund. Genau genommen war er ein Wüstling, der aussah wie eben aus einem ZZ -Top-Video entkommen. Er war ein ziemlich mächtiger Nekromant, derb und anzüglich, und er hielt sich einen Ghul namens Martin, der früher einmal Buchhalter gewesen war. Doch er hatte uns mehr als einmal geholfen, und falls er mit unseren Feinden zusammenarbeiten sollte, wäre das ein harter Schlag für uns.
»Wenn er wirklich auf deren Seite steht …« Ich warf Menolly einen Blick zu.
»Dann war’s das für ihn.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn er auf der falschen Seite steht, ist er tot. Ohne Wenn und Aber. Ich ziehe mich um. Wir sehen uns drüben, in zehn Minuten.« Sie wandte sich dem Bücherregal zu, straffte entschlossen die Schultern und ging hinunter in ihren Keller.
Camille warf mir einen Blick zu, der meine eigenen Gefühle spiegelte. Falls sich herausstellen sollte, dass Wilbur uns in den Rücken gefallen war, würden wir uns keine Sorgen mehr um ihn machen müssen. Menolly würde ihn ausbluten, ehe eine von uns an ihn herankam.
Ich lächelte schwach und zuckte mit den Schultern. »Na dann … ziehen wir uns wohl besser an.«
Wilburs Haus war im Viertel als »das alte London-Haus« bekannt. Allerdings hatten wir keine Ahnung, warum. Es war eine viktorianische Villa, ganz ähnlich wie unser Haus, drei Stockwerke hoch, doch damit war die Ähnlichkeit auch schon erschöpft. Wilbur bemühte sich nicht einmal um den Anschein, sein Grundstück in Ordnung zu halten. Zwar standen keine Schrottautos oder alten Kühlschränke im Vorgarten herum, aber die Zufahrt war von Brombeeren und Weinblatt-Ahorn halb zugewuchert.
Wilbur besaß einen alten Pick-up – so einen mit abgerundetem Dach und Trittbrett links und rechts. Außerdem hatte er noch einen zerbeulten 1957 er Chevy mit Heckflossen, in Kirschrot und Weiß. Er schoss oft aus seiner Einfahrt heraus wie ein Irrer, und ich fragte mich, ob die Polizei ihn schon einmal wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten hatte.
Wir gingen zu Fuß unsere Auffahrt entlang und über die Straße zu seinem Haus. Die Spannung war so greifbar, dass ich sie deutlich spüren konnte. Menolly trug ein Paar ihrer Stiefel mit den spitzen Stöckelabsätzen – mit denen sie gern Löcher in ihre Gegner trat. Camille, Smoky und Shade waren ebenfalls kampftauglich gekleidet. Ich trug eine Jeans, einen Rollkragenpulli und Doc Martens. Morio und Roz ließen sich zurückfallen, gähnten und flüsterten miteinander.
Ich blickte zum Himmel auf. Die Sonne würde erst in zwei Stunden aufgehen, und es war noch vollständig dunkel. Doch eine tief hängende Wolkenbank hatte sich herangeschoben, spiegelte die Lichter der Stadt und warf so einen schwachen Schimmer auf den Boden. Der Regen hatte nachgelassen, doch es drohte mehr. Die Luft war mit Feuchtigkeit gesättigt. Ein Hauch von Zedern und Tannen trieb an mir vorbei, und ich schloss die Augen und atmete tief ein. Der Duft der Bäume umgab mich wie eine tröstliche Umarmung, und ich wünschte, dies wäre nur ein netter Spaziergang durch die Nachbarschaft.
Camille schob eine Hand in meine. »Ich weiß. Ich weiß.«
»Was weißt du?« Ich sah sie freundlich an.
»Mir gefällt das auch nicht. Jemandem nicht trauen zu können, der sich unser Vertrauen verdient hat. Ich mag gar nicht daran denken, dass er uns womöglich getäuscht hat. Wir sollten zu Hause im Bett liegen, statt wie ein Schlägertrupp vor seinem Haus aufzumarschieren, um bei ihm einzudringen und uns seinen Esstisch anzusehen.« Sie blieb abrupt stehen. »Ihr Götter, klingt das lächerlich.«
»Tja, ich wünschte nur, es wäre so lächerlich. Ist es aber nicht.« Wir stapften seine Auffahrt entlang, um zahlreiche Schlaglöcher herum. Ich wich einem Gestrüpp aus Brennnesseln aus, die vom Rand aus über den Weg ragten. Das Land fühlte sich seltsam an, aber nicht böse – es ließ mich nur schaudern, als würde ich beobachtet.
Als wir die Haustür erreichten, trat ich zu Menolly nach vorn. »Überlass das Reden mir«, sagte ich. »Du reißt ihm sonst
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