Katzenmond
Constanze Zeit zum Verstehen zu geben.
Dem Mädchen war für einen Moment schwindlig geworden. Sie als zukünftige Rektorin der Aphrodite? Sicher, Frau Laurent hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihr wohlgesinnt war. Dafür sprach unter anderem der Ring, den sie ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Es war ein Original, keine billige Nachbildung wie bei den anderen, die noch dazu aussah wie eine verunglückte Eidechse. Sie hatte ihn ihr mit den seltsamen Worten überreicht, die Schlange würde zu Unrecht als Urheberin der Sünde bezichtigt, vielmehr habe sie die Menschen die Scham gelehrt und sie damit von den Tieren unterschieden. Scham, hatte Frau Laurent gesagt, sei die Tugend der wahrhaft Liebenden, das solle sie niemals vergessen. Da Frau Laurent keine eigenen Kinder besaß, hatte Constanze manchmal vermutet, dass sie in ihr eine Art Ziehtochter sah. Nie aber ihre Nachfolgerin. Obgleich sie, nebenbei gesagt, tatsächlich in allen Fächern die besten Noten hatte.
»Ich frage dich nicht, was es mit diesem Mann auf sich hat«, war wie aus dichtem Nebel Frau Laurents Stimme an ihr Ohr gedrungen. »Ich bitte dich nur, dich zusammenzureißen und uns die Polizei vom Hals zu halten. Für die Schule und für dich.«
Constanze tupfte sich abermals über die Augen. Das Schicksal der Schule lag in ihrer Hand. Gott noch mal, die Schlange. Wenn Frau Laurent wüsste, wen sie da wochenlang an ihrem Busen genährt hatte! Aber damit war jetzt Schluss. Mit jäh auflodernder Entschlossenheit warf Constanze das Taschentuch in den Papierkorb und streifte die Hausschuhe ab, als es klopfte. Fast gleichzeitig öffnete sich die Tür zu ihrem Zimmer.
Liebermann betrat den Raum mit dem zielstrebigen Zaudern eines Leichenbestatters. Er entschuldigte sich für die späteStörung, warf einen Blick auf ihre verweinten Augen und hielt ihr den Ring entgegen.
Constanzes Lippen begannen zu zittern. Sie drehte den Kopf zum Fenster. »Haben Sie nicht Feierabend?«
»Doch. Ich bin nur auf einen Sprung vorbeigekommen, um Sie zu bitten, den hier aufzuprobieren. Überlegen Sie es sich. Wenn Sie sich weigern, müsste ich Sie morgen ins Kommissariat bestellen. Aber dort wären wir nicht allein.«
Constanze atmete tief ein. Dann nahm sie das Schmuckstück und schob es über den hellen Streifen auf ihrem Finger. »Zufrieden?«
Liebermann nickte. »Den hier haben Sie nicht von Ihrer Großmutter bekommen, oder?«
»Nein.«
»Sondern von Knut Kaiser.«
»Nein.«
Sie zog den Ring wieder ab und gab ihn Liebermann zurück, der sie aus aufgerissenen Augen anstarrte. »Und still starb eine Theorie. Es tut mir aufrichtig leid.«
»Woher haben Sie ihn dann?«
Sie schüttelte den Kopf, wobei sich eine Haarsträhne aus ihrem Zopf löste. »Entschuldigen Sie, aber da er nicht von Knut ist, fürchte ich, dass Sie das nichts angeht.« Sie schwieg einen Moment, dann setzte sie hinzu: »Ich habe ihn Knut auch nicht ins Essen gemischt, falls Sie das denken. Ganz abgesehen davon, dass er ihn höchstwahrscheinlich wieder ausgespuckt hätte.«
»Nicht ins Essen gemischt«, stimmte Liebermann zu. »In den Schlund gestopft trifft es besser. Nach dem Motto: Erstick daran!«
Ihr Gesicht verkrampfte sich.
»Der Fall liegt so«, fuhr Liebermann fort, »wenn Sie es nicht waren, muss es jemand aus dem Haus gewesen sein. Wer hätte sonst Gelegenheit, den Ring an sich zu bringen? Und es wäredenkbar, dass dieser Jemand ein Problem mit Ihnen hat. Ich weiß, dass es Angenehmeres gibt, als über potentielle Feinde nachzudenken. Aber ich würde Ihnen trotzdem dazu raten. Denn wer immer vorhatte, Sie in die Tinte zu reiten, hat es geschafft. Es ist Ihr Ring, Sie standen Kaiser nahe, Sie hatten ein Motiv, Gelegenheit, und Ihr Alibi steht auf Füßen aus Wachs. Haben Sie schon mal einen Gedanken daran verschwendet, dass das eigentliche Ziel dieser Tollkirschenaktion nicht Kaiser, sondern Sie gewesen sein könnten?«
Constanze gab einen erstickten Laut von sich und ließ sich auf das Bett fallen. Besorgt betrachtete Liebermann einen sich rasch ausbreitenden grünlichen Schatten um ihre Nase herum.
Er zog sich den Klavierschemel herbei. Die nächsten Minuten sah er zu, wie die junge Frau an einem immer länger werdenden Wollfaden der Decke zog, auf der sie saß. Es schien, als löse sie nach und nach ihr Leben rückwärtig auf, jede Masche ein verworfener Verdacht. Am Ende, fürchtete er, würde sie nur noch einen unübersehbaren Wollhaufen vor sich haben. Aber so weit
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